Der Fußballgott hat die Hand im Spiel: Mal hebt er den Daumen (bei Maradona), mal den Mittelfinger (beim BVB).

Stuttgart - Zu den emotionalsten Höhepunkten in der Vereinsgeschichte von Borussia Dortmund gehört der Tag, an dem Schalke 04 Meister der Herzen wurde – jener ergreifende Moment, als in Hamburg in der vierten Minute der Nachspielzeit noch ein Tor für den FC Bayern fiel, der Manager Rudi Assauer die Meisterfeier im Schalker Stadion schlagartig abbrach und auf der Stelle zum Atheismus übertrat: „Der Fußballgott ist für mich erledigt.“

 

Für die Dortmunder jetzt aber auch. Was sich dieser Halbgott im Hintergrund da schon seit Wochen im Namen der ausgleichenden Ruhrpottgerechtigkeit leistet, geht den Schwarz-Gelben in puncto Willkür zu weit. Seinen Schabernack treibt er mit ihnen, lässt sie tanzen wie die Marionetten und führt sie mit einem Ätsch derart an den Rand des Abgrunds, dass Jürgen Klopp sagt: „Wir spielen eine Art Fußball, die absolut keinen Sinn macht.“ Der große Meistertrainer macht alles wie früher, mit dem Unterschied, dass er jetzt verliert. Ohnmächtig steht er dieser höheren, finsteren Macht gegenüber, schließt manchmal kopfschüttelnd die Augen, faltet die Hände über der Baseballmütze, schaut dann verzweifelt nach oben, betet das Vaterunser und fleht: „Großer Gott, erklär mir das mal.“

Das Blabla der Experten

Es ist zum Totlachen, wie uns ein paar selbst ernannte Gelehrte dieser Tage erklären, was in Dortmund gerade schiefläuft – und überhaupt zu erklären versuchen, dass der Fußball erklärbar ist. Die absurdesten Erfolgsrezepte zählen sie uns auf, Taktik, Einstellung, Biorhythmus. Alles Blabla. In Wahrheit hat da ein fußballverrückter Parallelgott die Hand im Spiel, mal hebt er den Daumen (wie damals bei Maradona), mal zeigt er den steifen Mittelfinger (wie jetzt den Dortmundern) – jedenfalls fühlt er sich pudelwohl auf der Zirkusbühne des Fußballs.

Zu den rätselhaften Phänomenen gehörte zuletzt auch das 3:3 des VfB gegen Leverkusen, dieses Tüpfelchen auf dem i des Irrsinns. Während des Pausentees hat dieser unsichtbare Drahtzieher kurzerhand angeordnet, dass die Flatterbälle mit sofortiger Wirkung die Flugbahn ändern. 3:0 führte Leverkusen bis dahin, aber 5:0 wäre korrekter gewesen, der VfB war fix und fertig wie die Brasilianer in Belo Horizonte, und die Frage war nur: Wird Armin Veh erst nach dem Spiel oder schon bei Halbzeit gefeuert?

Das Wunder von Stuttgart

Doch was passiert? Das große Wunder der Wende. Nein, der Trainer Veh hat seinen mausetoten Pflegefällen nicht das Blut geköpfter Hühner eingeflößt, sondern nur aus Wasser geschwind Wein gemacht, indem er zu ihnen sagte: „Man kann auch solche Spiele noch gewinnen.“ Normalerweise wird einer für so was sofort eingeliefert – ähnlich absurd wäre es ungefähr gewesen, wenn Veh bei der Jahrtausendwende erklärt hätte, dass Griechenland irgendwann Europameister wird, Uli Hoeneß seine Gäste im Gefängnis empfängt oder Franz Beckenbauer einen Sozialfonds für in Not geratene Ex-Weltmeister empfiehlt, beispielsweise für Andy Brehme. Man hätte Armin Veh für solche Abwegigkeiten auf der Stelle entmündigt.

Und nun das. 3:3. Das 4:3 und 5:3 für den VfB hat Leverkusens Torwart Leno in der Schlussminute mirakulös verhindert, und spätestens da fiel einem in diesem Zirkuskäfig der Verrücktheiten und Narreteien nur noch Lukas 1, Vers 37 ein: „Beim Fußballgott ist kein Ding unmöglich.“

Ein erstaunliches Lob für Roberto Di Matteo

„Wenn es diesen Fußballgott gibt, was geht bloß ihn ihm vor?“, hat Matthias Sammer schon vor gut zwei Jahren gestaunt und seinen Glatzkopf geschüttelt, als TV-Experte anlässlich des Triumphs des FC Chelsea in der Champions League. Die Engländer setzten sich damals gegen Barcelona und im Finale vollends gegen den FC Bayern durch, mit mehr Glück als Verstand und einem grausam destruktiven Fußball. Roberto Di Matteo war Chelseas Trainer, er hatte alle Ästheten gegen sich – aber der Fußballgott war auf seiner Seite, hatte gerade seinen schelmischen Tag und sagte: „Gut spielen und gewinnen kann jeder – schlecht spielen und siegen, das ist die Kunst.“

Seit vergangenem Samstag ist Roberto Di Matteo nun wieder da, und die Unerklärlichkeit des Fußballs geht direkt so weiter, denn der ZDF-Reporter Boris Büchler sagte im „Sportstudio“ am Ende seines Interviews mit dem neuen Schalker Trainer: „Kompliment für Ihr gutes Deutsch.“ Es war ein erstaunliches Lob, denn Roberto Di Matteo ist Schaffhausener, aufgewachsen direkt an der Grenze, so nah, dass die Deutschen gegenüber die Glocken hören, die an jedem 1. April geläutet werden. Denn am 1. April 1944, fünf Minuten vor elf, starben in Schaffhausen vierzig Menschen im Bombenhagel eines US-Bombergeschwaders, das sich im Ziel vertat.

Mehr als zu beten und abzuwarten bleibt dem BVB nicht

Mit dem verblüffenden Lob für das gute Deutsch des Schalker Trainers ist es also wie mit so vielem im Fußball: Es lässt sich nicht erklären. Auch Hannovers Trainer Tayfun Korkut hat zuletzt gar nicht versucht, die 0:3-Niederlage gegen Gladbach zu erklären, sondern dem TV-Frager lieber erklärt: „Sie wissen ja, wie Fußball ist: Jede Woche drehen sich die Sachen.“ Mit der Schulter hat er gezuckt und seinen Verlierern vermutlich empfohlen, nach dem Sonntagsgottesdienst bei der Spende in den Opferstock nicht allzu kleinlich zu sein.

Mehr können auch die Dortmunder nicht tun. Beten und brav ihre Kirchensteuer zahlen sollten sie – und warten, was sich dieser unheimliche Allmächtige jetzt für ihr Spiel bei Galatasaray in der Champions League einfallen lässt. Seine Wege sind unergründlich, und schlimmstenfalls lässt er den Torwart Weidenfeller wieder am Ball vorbeilaufen wie am Samstag in Köln. In solchen Momenten ist der Fußballgott vermutlich ein kleiner, kichernder Schlawiner, der sich vor dem Bildschirm auf die Schenkel klopft, den Bauch hält, am Boden wälzt und dabei an Günter Netzer denkt – denn der hat die Unerklärlichkeit des Fußballs als Einziger bisher richtig erklärt: „Keine noch so kluge Taktik ist so gut wie ein dummes Tor.“