Die Bayern sind vor dem königlichen Halbfinale chancenlos: Einen Mythos kannst du nicht besiegen, schreibt unser Kolumnist Oskar Beck.

Stuttgart - An seinen Tagen in Bestform hat sich Sepp Maier, die Torwartlegende des FC Bayern, nicht nur mit halsbrecherischen Robinsonaden in die Galerie der Götter gespielt, sondern vor allem mit dem haarsträubenden Kalauer: „Morgens um sieben ist die Welt noch in Dortmund.“

 

Abends um halb elf leider nicht mehr. Da war neulich nichts mehr in Ordnung nach dem BVB-Abgang in der Champions League gegen Real Madrid. Zuvor waren schon die Schalker vor den Königlichen in die Hocke gegangen. Folgen nach Ostern nun die Bayern?

Vor den Kartenhäuschen in Madrid und München spielen sich seit Tagen Szenen ab wie letztmals in den 70ern vor dem „Thrilla in Manila“ zwischen Muhammad Ali und Joe Frazier. Real und Bayern messen sich in zwei Jahrhundertkämpfen um die Weltmeisterschaft im Schwergewicht, und die Fans stehen Schlange, bringen in Thermosflaschen heißen Tee mit und übernachten in Zelten – angeblich bieten Besserverdiener für eine VIP-Karte inzwischen schon ihren Bugatti Veyron 16.4. und eine romantische Nacht mit ihrer Frau.

So ein Bugatti kostet, vierfach bereift und aufgetankt, circa 2,2 Millionen Euro, was uns direkt weiterführt zur Millionenfrage: Wer zählt mehr in der Fußballwelt – Bayern oder Real?

Real ist das Maß aller Dinge

Der argentinische Ex-Weltmeister Jorge Valdano hat das in seiner Zeit als Manager in Madrid einmal mit der rhetorischen Frage an einen Reporter beantwortet: „Angenommen, wir bauen nebeneinander zwei Stadien, eines für Real und eines für Bayern, und verkaufen Eintrittskarten zum selben Preis – wo würden Sie hingehen?“ Das war eine ziemlich niederträchtige Frage, und schon sind wir wieder dort, wo wir schon waren, als der Weltfußballer des Jahres 2013 gewählt wurde. 99 Prozent von uns Deutschen wetteten Haus und Hof auf den Bayern-Star Ribéry, ein Prozent tippte auf den Realstar Ronaldo, und 99 Prozent wurden deshalb über Nacht bettelarm. Ribéry war letztes Jahr vielleicht der beste Spieler der Welt in der besten Mannschaft der Welt, aber Real ist Real. Und Ronaldo ist Real. Alle Welt kennt ihn und kauft sein Trikot. Fragen Sie dagegen einmal auf einer Straße beispielsweise in Miami, wer Ribéry ist. Wenn Sie nach der Uhrzeit fragen, kriegen Sie eher eine Antwort. Und ein Ribéry-Trikot finden sie dort nirgends. Wir haben Bodo Illgner getroffen. Der deutsche Ex-Weltmeister lebt inzwischen da drüben in Florida, und es gibt Leute, die ihn noch erkennen – „aber nur“, hat er uns erzählt, „wegen meiner Zeit bei Real“.

Real ist das Maß aller Dinge. Um dem unwiderstehlichen Charisma dieses Clubs gerecht zu werden, muss man Peter Schöttel zitieren. Der ist Österreicher, als Fußballer also kaum der Rede wert, aber auf die Frage, welche Überschrift er am liebsten über sich lesen würde, gab er einmal die virtuose Antwort: „Schöttel sagt Real ab.“ In Wahrheit wäre er zu Fuß hingerannt, wie Illgner, Netzer, Stielike, Schuster, Metzelder, Özil, Khedira oder Heynckes. Nicht einmal Paul Breitner hat Nein gesagt. Obwohl er in der größten Ära der Bayern in den 70ern politisch betont einen auf links machte, fotogen mit der Mao-Bibel im Arm, scheute er nicht die Rochade zum Ex-Club des Generals Franco. „Ich muss“, pflegte Paule zu sagen, „meine Frau und meinen Hund fragen“ – beide waren offenbar dafür.

Auf nach Madrid

Real ist die Erfüllung eines alten Menschheitstraums. So wie es jeden Japaner einmal im Leben zum Eiffelturm drängt, jeden Moslem nach Mekka und jeden US-Kriegsveteranen zu den Ruinenresten von Hitlers Hütte am Obersalzberg, will jeder Fußballer einmal im Leben zu Real und am Prädikat „königlich“ schnuppern, mit dem Alfons XIII. diesen Club anno 1920 zum Ritter geschlagen hat. Von diesem Verein, der mit dem Heiligen Geist in einem Atemzug genannt wird, würde sogar ich mich rumkriegen lassen. Wenn in den nächsten fünf Minuten mein Telefon schellt und Real will mich als Chefkolumnist fürs Stadionblatt, lasse ich auf der Stelle den Griffel fallen, das Taxi nach Echterdingen vorfahren und meine treuesten Leser hier schamlos im Stich.

Woher diese Schwäche kommt? Vom 18. Mai 1960. Als Bub saß ich mit offenem Mund vor dem Bildschirm, und vor unfassbaren 127 621 Augenzeugen in Glasgow stemmte sich Eintracht Frankfurt im Finale des Europacups der Landesmeister heldenhaft gegen das weiße Ballett, verlor tapfer nur 3:7, und jedes Tor kann ich noch heute nacherzählen, aber vor allem den Angriff von Real: Canario, del Sol, di Stefano, Puskas, Gento. In einer alten Schrift findet sich dazu die Würdigung: „Nie wieder wird es einen solchen Sturm geben. Man muss sich vorstellen, Bach, Mozart, Beethoven, Haydn und Händel hätten alle zusammen für den Fürstbischof von Salzburg komponiert. Zur gleichen Zeit, das gleiche Concerto, am gleichen Klavier. Mit Brahms auf der Reservebank.“

Zum fünften Mal hintereinander wurde Real an jenem Abend Europacupsieger und zum berühmtesten Club der Welt, mit den glitzerndsten Spielern der Welt. Raúl und Figo, Beckham und Zidane, Kaká oder die Ronaldos und Bale, alle wollten und wollen Teil dieses Mythos sein, mit dieser Gänsehaut unter dem Trikot und der fast religiösen Verehrung, die die Konkurrenz in den Wahnsinn treibt. Selbst wenn der FC Barcelona gelegentlich erfolgreicher ist, ist er trotzdem immer noch fähig, auf eine kindische Art neidisch zu sein. Als Real für den Küchenausstatter Zanussi warb, wurde der von den Katalanen kollektiv boykottiert. „In Barcelona durfte Zanussi nicht einmal mehr eine Platte auf dem Herd im Obdachlosenheim reparieren“, erinnert sich Netzer.

Ja, jahrelang war der FC Barcelona der beste Club der Welt, oder zuletzt der FC Bayern. Aber das ändert nichts an den Fakten, am Ende gilt immer das gesprochene Wort von Breitner: „Real ist mehr als ein Club.“

Real muss nicht gewinnen. Selbst wenn Real verliert, steht es in der Mitte von allem. Alan Kennedy vom FC Liverpool beginnt noch heute als beliebter Stargast bei Jubiläen und Partys seine Festrede mit dem Satz: „Also mein goldenes Tor anno 81 im Cupfinale gegen Real ging so . . .“ Selbst wenn das so ähnlich in ein paar Tagen auch Ribéry sagen sollte, kauft alle Welt trotzdem weiter das Trikot von Ronaldo. Real ist Real. Und irreal.