15. November 1989. Praterstadion Wien. Die DDR-Auswahl trifft im Kampf ums WM-Ticket für 1990 auf Österreich, und der Trainer ahnt die 0:3-Schlappe schon vorher. Ede Geyer: „Mit der Nachricht aus dem Fernsehraum in Leipzig war die Qualifikation gelaufen. Die Wende hat uns die WM in Italien gekostet. Alle Spieler wurden umworben.“ Im kleinen Kreis ärgert er sich über „die Schaumschläger und Schlipsträger“, die seinen Männern den Kopf verdrehen. Doll sagt: „Von allen Seiten, auch aus Italien, kamen die Berater auf uns zu.“

 

Der von Calmund nach Wien entsandte Bayer-Unterhändler Wolfgang Karnath kommt den Objekten seiner Begierde besonders nah. Während sein Chef an diesem Abend auf der Tribüne in Köln im Spiel gegen Wales um Deutschland zittert, sitzt im Praterstadion „der Karnath mit einem Fotografenleibchen auf unserer DDR-Mannschaftsbank“ (Ulf Kirsten). Hinterher geht er auch noch mit ins DDR-Quartier in Lindabrunn, um für tags darauf alles vorzubereiten.

Edle Pralinen als Gastgeschenk

16. November 1989. Calmund fliegt nach Ostberlin und mietet ein Zimmer im Grand Hotel Unter den Linden sowie „einen dicken Audi mit C-Netz-Telefon“, um gewappnet zu sein für das „eher durchlässige Ostberliner Telefonnetz“. Dann fährt er zu Thom, der aus Wien kaum zurück ist, nimmt zu dessen Plattenbauwohnung in der Holzmarktstraße den Aufzug, klingelt am Türschild, drückt Tina Thom einen Blumenstrauß und „edle Pralinen“ in die Hand und fährt mit Tochter Janina Holzeisenbahn, die er als netter Onkel besorgt hat in der Spielzeugabteilung im Kaufhaus des Westens.

Im ZDF-„Sportstudio“ erinnert sich Calmund später an seinen Blitztrip so: „Ab über die Grenze, im Wohnblock von Thom den Aufzug hochfahren, am Türschild klingeln, mit dem Kind auf dem Boden Autofahren und den netten Onkel spielen.“ Wenn so ein gemütlicher Dicker sich auf dem Teppich rumwälzt und das Töchterchen des Hauses begeistert, wird selbst der hartgesottenste Kicker normalerweise sofort weich und unterschreibt einen Vertrag.

Doch Thom ist nervös. „Angespannt bis in die Haarspitzen“ erlebt ihn Calmund. Noch ist die DDR am Leben, noch hört die Staatssicherheit mit, und deren Chef Erich Mielke ist auch der Herrscher beim BFC Dynamo und hat seinen Kickern jahrelang eingetrichtert, wer der Klassenfeind ist. Doch der Dicke redet Thom gut zu, bis der auftaut. Anderntags lässt Calmund die Drähte glühen. Deutscher Turn- und Sportbund. Deutscher Fußball-Verband. BFC Dynamo. Innenministerium, Abteilung Betriebssport. Der dicke Calli ist mutig – ein paar Jahre zuvor hat er noch Polizeischutz benötigt, als er die geflüchteten Dynamo-Kicker Falko Götz und Dirk Schlegel zu Bayer geholt und eine Vergeltungsaktion der Stasi zu fürchten hatte.

Blättern wir zurück – auf den Tag, der die Welt so rasend verändert hat.

Der Druck der Massendemonstrationen

9. November 1989. Günther Schabowski, das Mitglied des SED-Politbüros der DDR, sitzt in Ostberlin vor der Presse und verliest eine neue, unter dem Druck der wachsenden Massendemonstrationen gelockerte Reiseregelung. Ab wann die denn gelte, wird er gefragt, und ratlos raschelt er in seinen Unterlagen und stammelt: „Das tritt nach meiner Kenntnis. . . ist das sofort, unverzüglich.“

Dem ist zwar nicht so, die Meldung war erst für den folgenden Tag bestimmt, doch der Lauf der Dinge ist nun nicht mehr zu stoppen: Die Ostberliner rennen zu den Schlagbäumen, und die DDR-Grenztruppen an der Bornholmer Straße gehen unter dem Druck in die Knie und lösen eine Kettenreaktion aus.

Die Mauer ist offen. Für alle.

Also auch für die Kanonen des DDR-Fußballs. Die sitzen an jenem 9. November 1989 in der Leipziger Sportschule und denken an nichts, nur an ihr nahendes WM-Qualifikationsspiel in Wien – da kommt Eduard Geyer daher, ihr Trainer, und sagt: „Was ist los, die Mauer ist weg?!“

Es gibt nur noch eine Richtung: westwärts

Thomas Doll erinnert sich: „Ich teilte mit Andy Thom ein Zimmer. Wir hatten nur Radio und gingen in den Fernsehraum. Was wir da sahen, war nicht zu fassen.“ Keiner, so sagt Ulf Kirsten, damals der dritte DDR-Klassestürmer, „hat sich mehr auf Wien konzentriert.“ Alle starrten auf diese Bilder, „wie die Leute in der Nacht in den Westen strömten“, sagt Thom. Und dann, so sagt Doll, „haben wir auf den Zimmern die Einheit gefeiert.“

In ihrer Aufgewühltheit rufen sie Frank Rohde an, den Kumpel vom BFC Dynamo. „Ich war“, entsinnt sich der, „gerade aus der DDR-Auswahl geflogen und hatte den Tag mit meiner Frau in Potsdam verbracht, das Schloss Sanssouci anschauen. Auf der Heimfahrt nach Hohenschönhausen mussten wir um Westberlin herum. Unterwegs veralberten uns die Leute: Ihr fahrt in die falsche Richtung!“

Es gibt nur noch eine Richtung: westwärts.

Man sieht es zwei Tage danach, im Olympiastadion. Hertha BSC spielt dort normalerweise vor halbleeren Rängen, in den Niederungen der zweiten Liga, aber am 11. November 1989 ist alles anders. Die Wattenscheider sind der Gegner, und deren Trainer Hannes Bongartz sagt vor dem Spiel: „Jungs, das Ergebnis ist heute egal. Was Ihr hier erlebt, werdet Ihr nie mehr vergessen.“

Fast 60 000 sind da. „Fans mit dem blauen Personalausweis der DDR hatten freien Eintritt“, erinnert sich Johannes B. Kerner, damals Interviewer für den Sender Freies Berlin, „und einer sagte mit Freudentränen: 28 Jahre lang habe ich auf den Moment gewartet, meine Hertha sehen zu können.“ Bis dahin mussten die DDR-Fans ihre TV-Antennen Richtung Westen biegen oder mit ihren Trabis nach Osteuropa tuckern, um die Bundesligamannschaften bei Europacupreisen anzufeuern – und plötzlich ist es dann doch nur noch eine Fahrt um die Ecke.

Auch Reiner Calmund ist im Olympiastadion, und die Ostberliner klopfen dem Dicken auf die Schultern. Sie kennen ihn, aus dem „Kicker“, „der war ja immer höchstes Kulturgut der DDR-Fangemeinde“, sagt Calmund selbst, und gefühlsmäßig geht es dem Leverkusener Manager wie Kerner („Man lebte in jenen Tagen mit einer Gänsehaut“) und Bongartz („Ich wollte Geschichte atmen“). Aber vor allem will Calli Torjäger kaufen – geschmeidig ist er bei Nacht und Nebel durch die ersten Löcher der bröckelnden Mauer gekrochen, um sich die schussstärksten Errungenschaften des Sozialismus unter den Nagel zu reißen. Thom und Kirsten.

Calmund grast die DDR ab

15. November 1989. Praterstadion Wien. Die DDR-Auswahl trifft im Kampf ums WM-Ticket für 1990 auf Österreich, und der Trainer ahnt die 0:3-Schlappe schon vorher. Ede Geyer: „Mit der Nachricht aus dem Fernsehraum in Leipzig war die Qualifikation gelaufen. Die Wende hat uns die WM in Italien gekostet. Alle Spieler wurden umworben.“ Im kleinen Kreis ärgert er sich über „die Schaumschläger und Schlipsträger“, die seinen Männern den Kopf verdrehen. Doll sagt: „Von allen Seiten, auch aus Italien, kamen die Berater auf uns zu.“

Der von Calmund nach Wien entsandte Bayer-Unterhändler Wolfgang Karnath kommt den Objekten seiner Begierde besonders nah. Während sein Chef an diesem Abend auf der Tribüne in Köln im Spiel gegen Wales um Deutschland zittert, sitzt im Praterstadion „der Karnath mit einem Fotografenleibchen auf unserer DDR-Mannschaftsbank“ (Ulf Kirsten). Hinterher geht er auch noch mit ins DDR-Quartier in Lindabrunn, um für tags darauf alles vorzubereiten.

Edle Pralinen als Gastgeschenk

16. November 1989. Calmund fliegt nach Ostberlin und mietet ein Zimmer im Grand Hotel Unter den Linden sowie „einen dicken Audi mit C-Netz-Telefon“, um gewappnet zu sein für das „eher durchlässige Ostberliner Telefonnetz“. Dann fährt er zu Thom, der aus Wien kaum zurück ist, nimmt zu dessen Plattenbauwohnung in der Holzmarktstraße den Aufzug, klingelt am Türschild, drückt Tina Thom einen Blumenstrauß und „edle Pralinen“ in die Hand und fährt mit Tochter Janina Holzeisenbahn, die er als netter Onkel besorgt hat in der Spielzeugabteilung im Kaufhaus des Westens.

Im ZDF-„Sportstudio“ erinnert sich Calmund später an seinen Blitztrip so: „Ab über die Grenze, im Wohnblock von Thom den Aufzug hochfahren, am Türschild klingeln, mit dem Kind auf dem Boden Autofahren und den netten Onkel spielen.“ Wenn so ein gemütlicher Dicker sich auf dem Teppich rumwälzt und das Töchterchen des Hauses begeistert, wird selbst der hartgesottenste Kicker normalerweise sofort weich und unterschreibt einen Vertrag.

Doch Thom ist nervös. „Angespannt bis in die Haarspitzen“ erlebt ihn Calmund. Noch ist die DDR am Leben, noch hört die Staatssicherheit mit, und deren Chef Erich Mielke ist auch der Herrscher beim BFC Dynamo und hat seinen Kickern jahrelang eingetrichtert, wer der Klassenfeind ist. Doch der Dicke redet Thom gut zu, bis der auftaut. Anderntags lässt Calmund die Drähte glühen. Deutscher Turn- und Sportbund. Deutscher Fußball-Verband. BFC Dynamo. Innenministerium, Abteilung Betriebssport. Der dicke Calli ist mutig – ein paar Jahre zuvor hat er noch Polizeischutz benötigt, als er die geflüchteten Dynamo-Kicker Falko Götz und Dirk Schlegel zu Bayer geholt und eine Vergeltungsaktion der Stasi zu fürchten hatte.

Als nächstes fährt er nach Dresden – zu Ulf Kirsten.

Sportkamerad Sammer und die Zweiraumwohnung

Die Stuttgarter sind derweil an Sammer dran. „Es geht alles so schnell“, stöhnt der in jenen Tagen. Bis dahin war seine Welt überschaubar. In Dresden, sagt er, gab es nicht mal Westfernsehen, „ARD war bei uns die Abkürzung für Außer Raum Dresden.“ Und wer war er denn bis vor kurzem? Sportkamerad Sammer, gelernter Maschinenanlagenmonteur, Zweiraumwohnung, Lada, Grundgehalt 1320 Mark (Ost) – als VfB-Profi hat man so was als Leasing-Rate. Und nun das: Bundesliga, Jahresgage zirka 450 000 Mark, Star.

Star?

Das ist Chinesisch für Sammer & Co. In der DDR war die Individualität verpönt, wer den Kopf aus dem Kollektiv steckte, wurde abrasiert. Das Champignon-Prinzip. Plötzlich sind sie aber die Stars und begehrt. Sammer in Stuttgart. Rainer Ernst in Kaiserslautern. Doll in Dortmund. „Die Dortmunder drängten“, erinnert sich Doll, „die wollten einen schnellen Vertrag. Aber während der Stadionbesichtigung bekam ich einen Anruf aus Berlin. Mein BFC-Freund Rohde hatte plötzlich Kontakt mit dem HSV.“ Schon naht die nächste deutsche Wende: Doll tendiert jetzt zum HSV.

Wasser auf Beckenbauers Mühlen

12. Dezember 1989. Der erste Transfer vom Sozialismus-Osten in den Kapitalismus-Westen ist perfekt, Andy Thom wechselt zum 1. Januar 1990 nach Leverkusen. Drei Millionen Mark kostet er alles in allem, und Reiner Calmund sagt beim Rückblick: „Was heute nach Peanuts klingt, trieb uns damals den Schweiß auf die Stirn.“ Würden die vom Kollektivbewusstsein geprägten Ostzugänge es packen in Bundesligadeutschland des Personenkults und Medienauftriebs? Kirsten: „In der DDR hatte es pro Spiel ja nur eine Kamera und einen Reporter gegeben.“

Doch die Angst lässt nach. Am 17. Februar 1990, in seinem ersten Bundesligaspiel, gibt Andy Thom „trotz des riesigen Rummels“ gleich die Antwort – mit einem Tor. Als erster gesamtdeutscher Nationalspieler aus dem Osten trifft er später auch in seinem ersten Länderspiel, was Wasser auf die Mühlen von Franz Beckenbauer ist, der bei der Übergabe seiner frischgebackenen Weltmeister an Berti Vogts sagt: „Wenn unsere Besten aus dem Osten jetzt noch dazukommen, sind wir auf Jahre hinaus unschlagbar.“

Auch die Bundesliga frohlockt. Kirsten trifft beim Debüt im Leverkusener Trikot auf Anhieb gegen den FC Bayern, Doll und Rohde schlagen in Hamburg ein, Ernst in Kaiserslautern – und Matthias Sammer wird beim VfB als lodernder Feuerkopf zum i-Tüpfelchen auf dem Streichholz und bestätigt die erste Wessi-These der Wende: Der Sozialismus hatte auch sein Gutes.

Die Fliesen im Duschraum der Schiedsrichter

Bis hin zu den Schiedsrichtern.

Wenn Bernd Heynemann zurückdenkt an den Mauerfall des 9. November 1989, erzählt er von gemischten Gefühlen: „Wir DDR-Schiedsrichter waren bei einem Treffen in Hettstedt nahe Halle an der Saale, und neben dem allgemeinen Glücksgefühl gab es die Frage: Wie geht es weiter?“ Gut geht es weiter. Im Austausch leiten die aus dem Osten schon wenig später Spiele der Bundesliga, und wenn im Gegenzug in der DDR-Oberliga der Bayer Aron Schmidhuber bei Sachsen Leipzig pfeift, „wurde bis zehn Minuten vor seinem Eintreffen noch der Duschraum in der Schiedsrichterkabine gefliest, um für einen gewissen Standard zu sorgen“, weiß Heynemann. Aber auch ihm geht es gut: In seinem ersten Bundesligaspiel übersteht er unbeschadet einen Wutanfall des Dortmunder Trainers („Plötzlich kam Horst Köppel auf den Platz gerannt“) – und legt damit den Grundstein für seine große Karriere als Fifa-Schiedsrichter.

Nur die DDR-Trainer schauen in die Röhre.

Auch sie stehen in jenem Herbst der Aufbruchstimmung am Bahnsteig, doch der Schnellzug fährt einfach ohne sie ab. Auch ohne die Besten, wie Hans Meyer, der den FC Carl Zeiss Jena bis ins Europacupfinale trainiert hatte. „Ich war“, sagt er in der Rückschau mitunter mit seinem gefürchteten, leisen Grinsen, „der Lattek der DDR. Nach der Wende dachte ich, am Weltklassemann Meyer kommt keiner vorbei – doch so kann man sich täuschen.“

Die Kollektivprediger haben es schwer

Die Ost-Trainer bleiben auf der Strecke in jenen Wochen der Wende. Die Bundesliga ist skeptisch: Kommen diese Kollektivprediger klar mit Stars? Oder man traut ihnen nicht wegen ihrer staatstragenden Vergangenheit. Auch Ede Geyer, der DDR-Auswahltrainer, kommt im neuen Deutschland nicht an, er gilt als Bleisoldat und wird belastet als „IM Jahn“, der für den Sportkameraden Mielke immer die Ohren aufhielt. Ein bisschen den Talentspäher auf Schalke darf er machen, und um es in die Bundesliga dann doch noch zu schaffen, muss er sich am Ende selbst helfen – und sich mit Cottbus hochtrainieren. Auch Meyer kommt erst nach einem Umweg über Holland durch die Hintertür und darf zeigen, „dass in der DDR nicht nur Blinde gearbeitet haben“.

Weißgott nicht – sogar Jürgen Nöldner, die Kanone von anno Tobak, findet noch seinen Platz im neuen deutschen Fußball. Dabei ist es, als der alte Volksheld vom ASK/FC Vorwärts Ostberlin seine hundert Mark Begrüßungsgeld abholt, schon Ende November. Nöldner: „Ich habe vierzehn Tage gewartet, bis ich auch mal rüber bin. Mein Cousin in Westberlin war sauer, weil ich als letzter Ossi in sein Haus in der Heerstraße kam. Alle anderen Verwandten hatten dort längst Begrüßung gefeiert.“ Wer zu spät kommt, den bestraft bekanntlich das Leben, doch den Nöldner bestraft nur der Cousin – kurz danach wechselt er als Redakteur der DDR-„Fußball-Woche“ zum West-„Kicker“ und schreibt fortan über Hertha BSC.

So jagt ein Transfer den nächsten. Und die Verrücktheit jener atemberaubenden Wendewochen wird vollends gekrönt: Für die Qualifikation zur EM 1992 werden die Kugeln „BRD“ und „DDR“ in eine gemeinsame Gruppe gelost. Johannes B. Kerner: „Die „Bild“-Schlagzeile habe ich noch vor Augen: „So ein Quatsch: Wir gegen uns!“

Doch dazu kommt es nicht mehr. Die Politik ist schneller. Sie braust in die Vereinigung wie zuvor der Mittelfeldstratege Matthias Sammer in die Bundesliga – und der ist es dann auch, der als Kapitän der DDR-Auswahl als Letzter die Tür abschließt, mit seinen zwei Toren im September 1990 gegen Belgien.

Womit Schluss ist mit wir gegen uns.

Wir waren wieder unter uns.