Dank Huub Stevens weiß der VfB Stuttgart, wie der Abstiegskampf in der Fußball-Bundesliga geht. Andere Clubs gehen vor Angst lieber ins Kloster, schreibt Oskar Beck.

Stuttgart - Wie viel Uhr es im Abstiegskampf ist, weiß man seit Samstag. Da sprang Christian Streich nach dem Abpfiff wie von der Tarantel gestochen von der Freiburger Trainerbank hoch, rannte Scharen von Unschuldigen über den Haufen, rutschte aus, rappelte sich auf und flüchtete schnurstracks in die Kabine.

 

„Ich musste Ruhe finden“, sagte er.

In Wahrheit wollte Streich keine Zeit verlieren und hat vermutlich hektisch gegoogelt, mit den Stichworten „5 vor 12“ und „Was tun?“. Denn schlagartig müssen jetzt die letzten Kräfte gebündelt werden. Ein Spiel noch. Wer da als Abstiegsbedrohter schläft, kann gleich den Priester für die letzte Ölung bestellen.

Alarmierende Studien belegen, dass der Stress eines Fallschirmspringers vor dem ersten Sprung kleiner ist als der eines Fußballtrainers vor dem letzten Spiel. Mit der Angst im Nacken sehen Trainer aus wie Andy Brehme, der in Kaiserslautern einst stammelte: „Es stehen uns schwere Wochen ins Gesicht.“ Besonders brutal ist es, wenn es nur noch Tage sind, und Michael Frontzeck hat es letzten Samstag nach dem Sieg seiner Hannoveraner in Augsburg so formuliert: „Heute freuen wir uns, morgen ist Pflege, am Montag frei – und dann wird getan, was zu tun ist.“

Was? Inzwischen wissen wir es: seit Mittwoch befindet sich Frontzeck mit seinen Spielern im Hotel Klosterpforte in Harsewinkel, einem ehemaligen Kloster.

Manchen hilft nur noch beten

Mit herkömmlichen Mitteln ist dieser Ausnahmesituation da unten im Keller nicht mehr beizukommen, am wenigsten in Hamburg. „Dem HSV hilft nur noch beten“, fürchtet „Bild“, und die Fans rufen Bruno Labbadia verzweifelt zu: Steck Haarnadeln in den Rasen, setz dich in den Unterhosen deiner Frau auf die Trainerbank, tu irgendwas Bescheuertes – aber tu was!

Den „Geist von Malente“ hat der HSV-Trainer diese Woche beschworen, in der dortigen Sportschule hausten schon die deutschen Helden vor dem WM-Sieg 1974. Heute heißt sie Uwe-Seeler-Sportpark, und Uwe wäre nicht Uwe, wenn er vor dem Spiel gegen Schalke nicht noch schnell vorbeikommt und die HSV-Pflegefälle anbrüllt: „Keiner lässt die Schlappohren hängen!“

Wie kocht man ein Weichei hart? Oft helfen schon kleine Tricks. Mike Singletary, ein Footballtrainer in San Francisco, ließ vor seinen Schlappschwänzen in der Kabine einmal die Hose runter und zog den Hintern blank. „Ich hätte auch mit Stühlen werfen oder die Umkleidebänke aus ihrer Verankerung reißen können“, sagte er später. Und als Michael Moorer nach einer laschen Runde in seinem WM-Fight gegen Evander Holyfield in die Ecke kam, empfing ihn sein Boxtrainer Teddy Atlas dort auf dem Hocker sitzend mit dem Schrei: „Sollen wir die Plätze tauschen?“ Der Motivationsschub half, Moorer gewann.

„Kneift gefälligst die Arschbacken zusammen!“

Stellt sich Labbadia selbst noch mal auf statt Lasogga? Schickt er den HSV gegen Schalke womöglich in alten Uwe-Gedächtnistrikots und den gestrickten Baumwollstutzen ins Spiel, die bei Regen noch eingingen? Solche Methoden, zugegeben, weichen von der reinen Trainingslehre etwas ab, aber für den Klassenerhalt muss man auch einmal ein „Glaubt an euch!“ auf den Kabinenboden sprühen oder die Jungs an Geldbündeln schnuppern lassen. Erfolg versprechend sind auch das Verbuddeln einer Münze, das Tragen eines blauen Pullovers oder die Wut- und Brandreden („Kneift gefälligst die Arschbacken zusammen!“), mit denen Udo Lattek einmal Dortmund rettete – sicherheitshalber hat er damals mit einem dynamischen Mitternachtsgespräch auch noch den Manager Michael Meier motiviert: „Als Meier ging, war er einen halben Meter größer. Dabei haben wir nur ein Glas Bier getrunken.“

So geht Abstiegskampf.

Es gibt reizvolle Rituale, auf die kein ernst zu nehmender Trainer mehr verzichten kann, und auch der VfB hat schon davon profitiert. In höchster Abstiegsgefahr kam 1991 Christoph Daum, er brachte eine Hasenpfote, ein Schornsteinfegerchen und einen Glückspfennig mit und rief, als es eng wurde, zum Himmel: „Wofür zahle ich eigentlich Kirchensteuer?“ Der VfB stieg nicht ab – und wurde 1992 Deutscher Meister.

So könnte es auch 2016 ganz leicht wieder kommen, aber zunächst einmal muss der VfB jetzt drinbleiben – und darf sich glücklich schätzen, wieder einen Trainer zu haben, der zum richtigen Zeitpunkt den richtigen Ton trifft. „Ihr Affen!“, schreit Huub Stevens seine Spieler seit anderthalb Wochen an, „Affen seid ihr!“

Ein größeres Lob gibt es nicht. Eine Studie der japanischen Universität Kyoto belegt, dass Schimpansen ein besseres Kurzzeitgedächtnis als Menschen haben und rechnen und sogar lesen können. „Manche Aufgaben“, sagt der Wissenschaftler Tetsuro Matsuzawa, „lösen sie besser als Menschen.“

Der Stuttgarter Affentanz

„Affe“ ist also ein Kompliment, und die VfB-Spieler haben sich dafür letzten Samstag nach dem Tor zum 2:1 gegen den HSV prompt mit dem „Tanz der Affen“ bedankt. Nur kurz hatten sie fälschlicherweise gedacht, Stevens habe sich (so Martin Harnik) „in der Wortwahl vergriffen“ – bis sie begriffen: Für den Niederländer ist „Brehms Tierleben“ das Handbuch der Motivation. So hatte Huub früher schon Marc Wilmots auf Schalke zum „Kampfschwein“ erklärt, und die Fans feierten ihn als Trainer des Jahrhunderts.

Welches tierische Wort lässt sich Stevens vor dem letzten Spiel jetzt noch schnell einfallen – und was unternimmt André Breitenreiter dagegen?

Wie man hört, will der Trainer des Tabellenletzten alle Schornsteinfeger Paderborns als Glücksbringer im Stadion haben, in ihrer schwarzen Berufskluft – das würde dann auch für den Fall der Beerdigung gut passen. Im Übrigen sagt André Breitenreiter: „Wir haben noch unsere Chance.“ Das A und O aller Strohhalme, an denen ein Trainer sich festhält, ist und bleibt die Durchhalteparole.

So viel zu den besten Rezepten in höchster Not. Wer glaubt, ohne sie auszukommen, ist im Abstiegskampf fehl am Platz und kann nur noch den Schiedsrichter bestechen oder Peter Neururer anrufen – und ihm die Rechte abkaufen am besten letzten Rat, der je durch eine Spielerkabine geschmettert wurde: „Ihr müsst so heiß sein, dass ihr mit euren Händen Hosen bügeln könnt!“

Wer das nicht kann, steigt ab.