Die Welt ist verrückt, und besonders drunter und drüber geht es auf den billigen Plätzen beim FC Bayern, berichtet Oskar Beck.
   

Stuttgart - Es gehe nirgends merkwürdiger zu als auf der Welt, hat der fassungslose Tucholsky schon früh im vergangenen Jahrtausend kopfschüttelnd auf ein Blatt Papier geschrieben - dabei war die Welt damals noch so gut wie in Ordnung. Erst jetzt dreht sie durch. In Brockton im US-Staat Massachusetts ist ein Alligator dabei beobachtet worden, wie er ungeniert über eine belebte Straße trottete. Ein anderes Krokodil kroch auf einem Parkplatz in New York City wie selbstverständlich unter einem Auto hervor, nur Hut, Krawatte und Sonnenbrille haben noch gefehlt. Doch das verrückteste Ding erleben wir in München - oder hätten Sie es für möglich gehalten, dass die Fans des FC Bayern auf wüsten Transparenten ihren Präsidenten Uli Hoeneß als verantwortungslosen Lügner beschimpfen und ihn hinstellen wie einen Haderlump?

 

Das letzte Hemd hätten wir verwettet, dass dem Hoeneß so was als Allerletztem passieren würde - hundertfach größer war die Wahrscheinlichkeit, dass man morgens sein Badezimmer betritt, und Jesus Christus steht vor dem Spiegel und rasiert sich. Die Bayern-Bosse sind außer sich. Rummenigge ist empört, der Franz entsetzt, ja sogar Stoiber fährt sich durch seine Silberlocke und versteht diese Welt nicht mehr, auf deren billigen Plätzen eine Lebensleistung wie die von Hoeneß nichts mehr zählt.

Vierzig Jahre lang bläst und reißt sich der für die Bayern die Backen auf - doch über Nacht ist er unten durch, weil er gegen den Willen der wild gewordenen Fanminderheit den besten Torwart der Welt holen will und nebenbei noch ein bisschen dem schwer erkrankten Lokalrivalen 1860 unter die Arme greift, damit der wenigstens so lange am Leben bleibt, dass er seine Schulden an die Bayern zurückzahlen kann.

Sogar die Wirtschaft kann vom FC Bayern lernen

Wir lernen daraus: der fuchsteufelswilde Fan wirft nicht nur mit Bierbechern nach Linienrichtern, sondern notfalls auch mit Latrinenparolen nach Hoeneß - jedenfalls haben die Leistungsträger der Fußballgesellschaft momentan weniger Dank zu erwarten als früher.

Dem jungen Hoeneß hat noch keiner ans Bein gepieselt. Im Gegenteil, die Bundespost erkannte schon 1974, dass dieses Fußballerleben kein gewöhnliches sein würde: Die 40-Pfennig-Sonderbriefmarke zur damaligen WM wurde bedruckt mit dem Jungbayern, und der wurde den Vorschusslorbeeren voll gerecht als Weltmeister und windhundschneller Lockenkopf, der an seinen Gegnern nur so vorbeiflog.

Die Bilder von damals kommen noch als Schmalfilm daher, doch lang hat es danach nicht gedauert, da war Hoeneß ein Mann von Gewicht, und das "Manager-Magazin" hat ihn aufs Titelbild gesetzt, flankiert von der Zeile "Was die Wirtschaft vom FC Bayern lernen kann".

Ohne Hoeneß wären die Bayern arm dran

Gefeiert wurde er als Visionär, womöglich aber auch wegen des Muts, mit dem er einmal in einer Talkshow zur Gewerkschafterin Ursula Engelen-Kefer sagte: "Sie machen immer nur Theorie. Sie haben in Ihrem Leben noch nie ein Paar Bratwürste verkauft." Er schon. Schon als Bub, in der elterlichen Ulmer Metzgerei. Heute ist er Mitinhaber einer der nennenswertesten Wurstfabriken, und wenn nach dem Erfolgsgeheimnis hinter seinem Gesamtlebenswerk geforscht wird, erzählen Freund und Feind folgenden Witz: Drei Bundesligabosse stehen am Grab eines Spielervermittlers, dem sie noch Geld schulden. VfB-Präsident Staudt wirft das Bündel Scheine korrekt abgezählt in den Sarg, Bremens Manager Allofs legt noch ein Trinkgeld dazu. Was macht Hoeneß? Er lässt einen dicken Scheck ins Grab fallen, worauf der Pfarrer sagt: "Feiner Kerl."

Gar nicht fein ist jetzt der blinde Hass der Bayern-Fans, und man hat von Hoeneß tagelang wenig gehört. Besorgt wurde bereits gemunkelt, der Präsident sei nicht mehr ansprechbar, lese keine Zeitung, höre keine Nachrichten, verweigere die Nahrungsaufnahme - und würde den Bettel am liebsten hinwerfen. Er würde uns allen fehlen, Hinz und Kunz und dir und mir. Ja, auch mir, denn nichts wäre mehr wie kürzlich morgens beim Frühstück, als mitten im Butterhörnchen das Telefon bimmelte und sich der streitbare Geist mit den Worten meldete: "Hier ist Uli Hoeneß, ich habe mich wieder einmal über Sie geärgert."

Viel befruchtender kann ein Tag nicht beginnen als mit zwei Meinungen, die sich frontal begegnen. Überhaupt wäre das Leben ohne Hoeneß nur noch halb so lebenswert und der Fußball weit weniger spannend. Denn weit und breit sagt kein anderer ähnlich pointiert, was er denkt. Spontan fällt uns eine TV-Diskussion ein, in der der Exkokainsünder Christoph Daum ziemlich gut wegkam, worauf Hoeneß in die Sendung geschwind hineintelefonierte ("Was ist das für ein Land, in dem Drogen als Kavaliersdelikt betrachtet werden?") - und den Hörer wieder auflegte.

Aber vor allem die Bayern wären ohne ihn arm dran, denn keiner wäre mehr da, der notfalls ein grundsätzliches Machtwort spricht wie Hoeneß seinerzeit in puncto Lothar Matthäus ("Der wird, solange ich etwas zu sagen habe, beim FC Bayern nicht einmal Greenkeeper"). So verdanken wir Uli Hoeneß also die größten Sternstunden und hitzigsten Wortgefechte des Fußballs, und alles in allem hat er sich das Recht zu seiner gelegentlichen Arroganz derart hart erarbeitet, dass man nur noch lauthals staunen kann über die Bayern-Fans, die sich diesen Hexer zum Teufel wünschen. Das ist so gaga, dass dahinter sogar die Meldungen von den spazieren gehenden Alligatoren in den amerikanischen Großstädten verblassen. Es geht nirgends merkwürdiger zu als auf dieser Welt. Aber am verrücktesten sind die Uli-Hoeneß-Hasser.