Lucien Favre muss her: Der VfB braucht als Trainer nicht mehr die Üblichen – sondern dringend den Besten. Und es kann klappen. Die Gladbacher haben den Schweizer vor ein paar Jahren unter ähnlich widrigen Voraussetzungen gekriegt.

Stuttgart - Bei Günther Jauch war am Sonntag Wolfgang Schäuble zu Gast, und man musste an den VfB denken, als er sagte: „Von meinem schwäbischen Landsmann Hölderlin habe ich gelernt: Wo Gefahr ist, wächst auch das Rettende.“ Im Moment braucht man allerdings noch den Feldstecher, um das Rettende zu erahnen, es ist ungefähr so weit weg wie der VfB vom FC Bayern oder Cannstatt von Costa Rica. Letzteres gilt als die Schweiz Mittelamerikas, vermutlich deshalb machen Schweizer dort gerne Urlaub – auch Lucien Favre ist gerade dort, tankt den Akku auf und will vom Rest der Welt für ein Weilchen nichts hören, nichts sehen, ja vermutlich nicht einmal telefonieren.

 

Als VfB-Präsident hat man es in solchen Fällen schwer. Beispielsweise wollte Erwin Staudt, unser letzter Meistermacher, vor ein paar Jahren einmal in hoher Not Hans Meyer anrufen, den Feuerwehr-Meyer mit dem Spritzenwagen und dem dicken Schlauch, der zu der Zeit überall gefragt war, wo es brannte. Aber der Hansdampf befand sich gerade auf einer Kreuzfahrt im ewigen Eis der Antarktis, brachte den Pinguinen am Südpol ein bisschen Fußball bei – und es gibt dort kein Handynetz.

In Richtung Costa Rica funktioniert zumindest der Notruf „911“ – und wir ahnen, dass es VfB-Präsident Bernd Wahler Tag und Nacht probiert und sich bei Favre ins Zeug legt wie ein Dickbrettbohrer.

Gladbach wie durch ein Wunder vor dem Abstieg bewahrt

Es kann klappen. Die Gladbacher haben den Schweizer vor ein paar Jahren unter ähnlich widrigen Voraussetzungen gekriegt. Wie durch ein Wunder bewahrte er sie danach vor dem Abstieg, forcierte nachhaltig ihren Aufstieg zum Spitzenteam und in die Champions League und legte als Hexer derart die Hand auf, dass er sogar als potenzieller Nachfolger von Pep Guardiola beim FC Bayern in die Schlagzeilen geriet – ungefähr zu der Zeit sagte VfB-Präsident Wahler: „Mit Favre würde ich gerne mal arbeiten, mit so einem kriegst du einen Club auf Kurs.“

Wir hatten seinerzeit den Eindruck, dass Wahler, um Favre zu kriegen, sogar eine Ratte fressen würde. Der Schweizer hat nämlich den Vorzug, dass er mitreißende Taktiken ans Reißbrett pinnt und bei den Transfers selten Fehler macht – er tut also genau die Dinge, die die VfB-Fans seit einer Ewigkeit schrecklich vermissen.

Das VfB-Elend geht an die Nieren

Auch ich. Denn wie jedem halbwegs anständigen Schwaben geht mir das Elend des VfB an die Nieren, und zwar so, dass ich als Journalist vor Verzweiflung inzwischen zu den unfassbarsten Mitteln greife und gelegentlich eine Kolumne verfasse, die daherkommt wie ein schmalztriefender Liebesbrief. Weil die Schweizer zeigen wollen, dass sie uns Deutsche durchaus auch ein bisschen mögen, darf ich im Züricher „SonntagsBlick“ immer die Sportkolumne schreiben – und letzten Sonntag habe ich sie missbraucht für folgenden glühenden Appell:

„Lieber Lucien, wir beten Sie an, erlösen Sie uns von allem Übel. Wir Schwaben sind Eurer nördlichster Kanton, wir haben das Herz auf dem richtigen Fleck, also auf Höhe des VfB-Brustrings – und Scharen von Schweizern, Halbschweizern und Deutschschweizern sind schon überglücklich geworden bei uns, fragen Sie Streller, Knup, die Yakin-Brüder oder Gilbert Gress oder die Trainer Gross, Fringer, Sundermann und unseren Meistermacher Benthaus. Im Übrigen hat Ottmar Hitzfeld im VfB-Trikot einst sechs Tore in einem Spiel geschossen, das ist deutscher Rekord und geht nur in Stuttgart.“

Nie mehr ein Trainer, der kapituliert

Wir müssen, um Favre zu fangen, jetzt alles tun. Wir VfB-Fans wollen als Trainer nicht mehr die Üblichen, die nach einem halben Jahr wieder kapitulieren, wir brauchen jetzt dringend den, der uns weiterhilft, also den Besten. Aus Gründen, die nur mit der üblen Laune einer finsteren Macht erklärbar waren, ist Favre neulich in Gladbach gescheitert. Aber er ist ein Topmann, ein Visionär und Perfektionist, er tickt wie der alte VfBler Ralf Rangnick. Beispielsweise sagt der, bevor er einen Spieler verpflichtet: „Ich muss Bescheidenheit spüren. Ich achte auf den Händedruck. Wie schaut er mich an? Wie ist sein Elternhaus? Hat er Geschwister, wie spricht er über sie?“ Die gründlichen und gewissenhaften Trainer laden einen Spieler zum Essen ein, zum „Gabeltest“ – und auch die Freundin oder Gattin des Kandidaten ist herzlich willkommen, denn wenn sie sich beim Smalltalk verbabbelt, ist man als Trainer noch schlauer. So ist auch Favre. Die Spieler, die er holt, passen. Gezielt hat er in Gladbach die Eckpfeiler Reus, Dante, Hochstätter, Arrango oder ter Stegen ersetzt, er beherrscht die seltene Kunst der schier fehlerlosen Transferpolitik – während sich der VfB genau an dem Punkt seit vielen Jahren sein eigenes Grab schaufelt. Da ist von der sportlichen Abteilung teilweise drauflosgekauft worden wie aus dem Otto-Katalog, gerne auch Schnäppchen mit Holzbein, Hauptsache billig. Wenn der VfB drei gute Rechtsfüßler benötigte, hat er lieber drei Linkshänder gekauft, die preiswert waren, verbunden mit einem Gebet: Der Herrgott wird’s richten. Konzept? Favre hat eines.

Aber wie kriegen wir ihn?

Man muss Favre zu seinem Glück zwingen

„Er will noch nicht wieder“, sagen die Schweizer Kollegen, er will noch auftanken. Aber vielleicht nach Weihnachten? Oder im Frühjahr? Notfalls kann er den VfB dann immer noch retten, wie damals Gladbach, und danach den Neuaufbau starten – jedenfalls muss er her. Er muss gezwungen werden zu seinem Glück, es muss ihm eingetrichtert werden, dass Cannstatt der Nabel der Welt ist. Hier ist das erste Motorrad der Welt, die erste Kutsche, das erste Boot und das erste Luftschiff erfunden worden, jedenfalls sind die VfB-Väter anno 1893 schon motorisiert zur Gründungsversammlung gefahren – lange bevor man dem Rest der Welt den aufrechten Gang beibrachte.

Lieber Lucien, bei uns sind Sie richtig, als Denker und Lenker unter Dichtern und Tüftlern. Wir haben hier alles, die größten Weltmarktführer aus der Wirtschaft und Industrie, und vis-à- vis vom VfB ist Mercedes-Benz. Sie kriegen jeden Dienstwagen, den Sie wollen, und für die Spritztouren einen Porsche, in dem Ihre Frau nicht einmal mal mehr ihre Sonnenbrille braucht, denn die Windschutzscheibe ist nach Rezept geschliffen.

Wahler muss Tag und Nacht telefonieren

Das ist Stuttgart. Fortschritt und Luxus sind bei uns Schwaben Brüder, und auch der VfB kann wieder ein Riese sein. Sie müssen ihn wecken, lieber Lucien.

So kann es gehen. Der Präsident Wahler muss jetzt Tag und Nacht telefonieren, die schwäbische Wirtschaft muss dem Schweizer den Himmel auf Erden versprechen – und als Kolumnist bin ich bereits mit gutem Beispiel voranmarschiert, in Form der flehentlichen Bitte an meine Schweizer „SonntagsBlick“-Leser: „Falls Ihnen Lucien Favre bei der Heimkehr aus Costa Rica auf dem Flughafen in Zürich-Kloten über den Weg läuft – legen Sie ihm diese Kolumne vor.“ Wir kriegen ihn. Hölderlin lügt nicht.