Historisch betrachtet gibt es keine Alternative zum gemeinsamen Europa. In ihm gestalten seine Völker ihr Schicksal nicht wie über Jahrhunderte geübt gegeneinander und nebeneinander, sondern miteinander.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Stuttgart - „Das ist das Schicksal unserer Generation, dass wir zwischen den Zeiten stehen. Wir gehörten nie zu der Zeit, die heute zu Ende geht. Ob wir je zu der Zeit gehören werden, die kommen wird?“

 

Der berühmte evangelische Theologe Friedrich Gogarten schrieb diesen Satz im Jahr 1920 unter dem Eindruck eines vollständig zersetzten Religions- und Kulturoptimismus. Die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges hatten eine ganze Generation traumatisiert. Europas Staaten waren zerrüttet, seine Kulturen am Boden, seine Herrscherdynastien am Ende. Die Zeit war reif für einen fundamentalen Wandel.

Ungewissheit und Wagnis

Zwischen- und Wendezeiten bedeuten immer auch Ungewissheiten und Wagnisse. Geborstenes wird weggeräumt, Neues aufersteht aus Ruinen. Der Wunsch nach Demokratie, Völkerrecht, internationaler Verständigung und Solidarität erwuchs vor fast 100 Jahren bei Christen und Nichtchristen aus der Erkenntnis, dass Kriege eben nicht „eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ sind, wie der preußische Militärtheoretiker Carl von Clausewitz in seinem 1832 posthum erschienenen Hauptwerk „Vom Kriege“ schrieb. Und schon gar nicht die industrialisierte Massenvernichtung, die tote Erde, millionenfaches Leid und traumatisierte Generationen hinterlässt.

Von der Stunde Null zur Europäischen Union

Die neue, bessere Zeit, die auf den ersten Weltenbrand folgte, war nicht von langer Dauer. Die nationalsozialistische Machtergreifung 1933 führte in den noch verheerenderen Zweiten Weltkrieg. Danach gelang, was nach 1918 noch epochal gescheitert war. Auf die Stunde Null am 8. Mai 1945 folgten ein politischer Umbruch und wirtschaftlicher Aufbruch, die Europas Nationalstaaten zu einem historisch einmaligen Verbund zusammenwachsen ließen – zur Europäischen Union.

Wenn die Kriegsgeneration – zu der neben Gogarten auch seine theologischen Weggefährten Karl Barth, Rudolf Bultmann, Paul Tillich und Dietrich Bonhoeffer gehörten – je von etwas geträumt hatte, dann davon: Eine Gemeinschaft von Völkern, die auf gemeinsamen christlichen und humanen Werten beruht und nach Demokratie, Frieden, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit strebt.

Blick in die Glaskugel

Seit 60 Jahren – seitdem am 25. März 1957 die Römischen Verträge unterzeichnet wurden – existiert diese Gemeinschaft. Heute umfasst sie 28 Mitgliedsstaaten. Noch! Denn nachdem die britische Premierministerin Theresa May am 29. März offiziell den Austritt des Vereinigten Königreiches beantragt hat, wird die EU unweigerlich schrumpfen. Um rund 64 Millionen Bürger und den mit 11,5 Milliarden Euro zweitgrößten Nettozahler (mit einem Haushaltssaldo von 14,3 Milliarden Euro steht Deutschland an erster Stelle).

Man müsste schon in die Glaskugel schauen, um die Frage zu beantworten, ob der Austritt der zweitgrößten Volkswirtschaft innerhalb der EU der Anfang vom Ende der Gemeinschaft oder der Beginn einer Rückbesinnung auf ihre Wurzeln und gemeinsamen Werte sein wird.

Die Geschichte lehrt, dass viele Menschen nichts aus ihr lernen

Europas Staatenverbund wird heute von Nationalisten, Populisten und Sezessionisten als monetäre Zweckgemeinschaft, Verschiebebahnhof von Fördermitteln und unentschlossener Debattierclub diffamiert und verspottet. Übelste Polemik ist das! Historisch betrachtet gibt es keine Alternative zum gemeinsamen Europa. In ihm gestalten die europäischen Völker ihr Schicksal nicht – wie über Jahrhunderte – gegeneinander und nebeneinander, sondern erstmals miteinander.

Doch offenbar fällt vielen nichts so schwer wie die vernünftige Einsicht. „Die Geschichte lehrt die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt“, sagt Mahatma Gandhi. Und sie lehrt, dass viele nichts aus ihr lernen.