Lehrer schicken ihre Schüler zwei Wochen in die Welt ­hinaus und bauen darauf, dass sie sich dort zurechtfinden. Ohne Spickzettel, mit wenig Geld und noch weniger Aufsicht. Kann das gut gehen? Und wie!

Region: Verena Mayer (ena)

Tübingen - Die vier Buben sind seit Tagen unterwegs. Das Gepäck auf dem Rücken ist schwer, die Schuhe an den Füßen sind ramponiert. Wo sie am Abend die Zelte aufschlagen können, wissen sie noch nicht. Und dass sie satt in die Schlafsäcke kriechen können, ist auch nicht ausgemacht. Ihre Vorräte sind aufgebraucht. Also marschieren sie weiter. Bis zum nächsten Ort, wo es hoffentlich einen Laden gibt. Aber: da ist nichts. Kein Metzger, kein Bäcker, kein Supermarkt. Nichts! „Das war hart“, sagt Eric, 14, der dabei war.

 

Elisabeth Schewe dachte, sie hält das nicht aus. Zwei Wochen wird ihr Sohn weg sein. Mit fünf Klassenkameraden wandert er an den Bodensee. Ohne sich zwischenrein zu melden. Ihr Sohn geht in die siebte Klasse. Noch gibt es fast nichts, das sie nicht von ihm weiß, und nichts, was sie ihm nicht abnehmen würde. Nun soll sie ihn zwei Wochen alleine lassen? „Das war schwer“, sagt Elisabeth Schewe.

Die Mädchen haben den Campingplatz kaum verlassen, da bricht das Unwetter los. Der Himmel ist rabenschwarz, der Donner grollt furchterregend, und auf den Boden ergießen sich Wassermassen. Nina Jegliewski sitzt in ihrem Zelt und hat Angst: Haben es die Mädchen rechtzeitig in den Supermarkt geschafft, wo sie das Abendessen einkaufen wollten? Kommen sie wohlbehalten zurück? Die Studentin ist dafür verantwortlich, dass den Achtklässlerinnen nichts passiert. „Das war schlimm“, sagt Nina Jegliewski über die angstvolle Ungewissheit auf dem Campingplatz.

Ein wahnwitziges Abenteuer

Man könnte das, was die Französische Schule in Tübingen da veranstaltet hat, ein wahnwitziges Abenteuer nennen oder ein Himmelfahrtskommando: Siebt- und Achtklässler zwei Wochen lang in die Welt hinaus schicken und darauf bauen, dass sie dort zurecht kommen. Ohne Kontakt zu den Eltern, ohne Spickzettel, mit wenig Geld und nur ein bisschen Aufsicht. Die Begleiter, allesamt Studenten der Pädagogischen Hochschule in Ludwigsburg, dürfen nur dann einschreiten, wenn wirklich Not am Kind ist. Bei einem geprellten Handgelenk etwa oder unstillbarem Heimweh. Doch die Französische Schule nennt ihr Projekt: Herausforderung. Die Prüfungen, die die Schüler meistern müssen, haben sie sich selbst auferlegt. Und nun, da alle wieder zurück sind, kann man sagen: Auch die Eltern sind bei dieser Herausforderung sehr viel klüger geworden. Und die Lehrer, nicht nur die angehenden. Man hätte die Aktion deshalb auch Lernen fürs Leben nennen können.

Das Wetter am Tag des Aufbruchs ist so, dass eher ein Abbruch daraus werden könnte. Regen, Regen, Regen. Besserung ist nicht angesagt, im Gegenteil. Aber das ändert nichts. Fast ein Jahr lang hat die Schule die Herausforderung vorbereitet. Sie mal eben verschieben wegen schlechter Witterung ist nicht geplant. Und geht es nicht genau darum: mit Situationen fertig zu werden, für die es keine fertige Lösung gibt?

Acht Blasen an einem Fuß

Die sechs Bodensee-Wanderer zum Beispiel: Das Ziel ihrer ersten Etappe ist noch weit entfernt, da kann einer von ihnen nicht mehr laufen. Acht Blasen hat er an einem Fuß! Einen Krankenwagen zu rufen, erscheint übertrieben, Aufgeben ist keine Alternative. Was tun? Vielleicht das: Schuh ausziehen, Fuß verbinden und in einer Sandale weiterlaufen. Aber wie soll der angeschlagene Kamerad seinen großen Rucksack tragen? Vielleicht so: einen stabilen Stock zwischen die Riemen stecken und die Last auf den Schultern zweier Mitschüler verteilen. Tatsächlich – so geht es.

Oder die Kanu-Gruppe: Als die Mädchen, die 115 Kilometer den Regen in Bayern hinab paddeln, die Melone in einem Supermarkt entdecken, freuen sie sich. Nur 99 Cent – was für ein Spitzenangebot! Dass der Preis nicht für die ganze Melone, sondern pro Kilo gilt, kapieren sie erst an der Kasse. Was tun? Die Fünf-Kilo-Kugel doch nicht kaufen, trauen sich die Mädchen nicht. Wegen des Lochs im Budget von den Mitpaddlern angepflaumt zu werden, die auf dem Campingplatz warten, ist keine verlockende Aussicht. Also? Einfach eine Frau auf der Straße ansprechen und ihr die Melone weiter verkaufen. Hat funktioniert. Wirklich!

„Dieses Projekt wird unsere Schule verändern“, prophezeit Ralf Weber, der die Gemeinschaftsschule leitet. Im September des vergangenen Jahres präsentierten die Lehrer das Vorhaben den Eltern zum ersten Mal. Das Schulamt hat seinen Segen bereits gegeben, das übergeordnete Regierungspräsidium ebenfalls. In den folgenden Wochen überlegen sich die Siebt- und Achtklässler, welche Wagnisse sie eingehen könnten. Ein Lenkungskreis genehmigt die Projekte – oder auch nicht. An der Nordsee chillen, zum Beispiel, ist keine Herausforderung. Die Alpen überqueren hingegen ist eine zu große. Am Schluss sind 85 Schüler in 16 Gruppen in ganz Baden-Württemberg unterwegs. Für 15 Kinder, die nicht weg sein können, gibt es in Tübingen Programm. Sie schreinern Möbel, schaffen Ordnung in einem Feuchtbiotop oder lernen, alleine mit dem Bus zu fahren.

Ist es wirklich eine gute Idee, die Kinder da raus zu schicken?

Wenn die Kinder von heute einst Antworten auf Fragen finden müssen, die heute noch nicht mal die Lehrer kennen, muss es dann nicht gut sein, wenn sie schon heute lernen, dass man alles lernen kann?

Papa Neurauter war mit seinem Sohn Leander in den Osterferien im Schwarzwald wandern. Es lag Schnee, die Wege waren nicht geräumt, das Vorwärtskommen war sehr anstrengend. Nach der Rückkehr sagt der Vater zur Mutter: „Ich weiß nicht, ob er das packt.“ Mama Stöhr radelte mit ihrer Tochter Lara zu Trainingszwecken bis auf die Schwäbische Alb. Die Sonne schien warm, die Strecken waren steil. „Das schafft sie nie“, prophezeit die Mutter dem Vater, als sie wieder zuhause sind. Die Hilfe von Elisabeth Schewes Anton im Haushalt besteht darin, den Müll zur Tonne tragen. Véronique Kramers Laurent musste noch nie einen Koffer selbst packen. Wie sollen die Buben und Mädchen zurecht kommen? Was, wenn es unterwegs kalt wird? Werden sie von ihrer eigenen Kocherei satt? Denken sie daran, die Socken auszuziehen, wenn sie nass sind? Vertragen sich alle gut? Ach, und überhaupt: Ist es wirklich eine gute Idee, die Kinder da raus zu schicken?

Man muss nicht zur Gattung der Helikoptereltern gehören, um sich Fragen wie diese zu stellen. Wenn man daran gewohnt ist, sein Kind durch den hektischen Rhythmus des Alltags zu lotsen, kann es vermutlich gar nicht einfach sein, es plötzlich alleine ziehen zu lassen. „Das hat sich angefühlt wie am ersten Schultag“, sagt Elisabeth Schewe über den Abschied von ihrem Sohn.

24 Stunden am Tag Lebensunterricht

Der Unterricht im richtigen Leben dauert 24 Stunden am Tag und hat keine Pausen. Die Kinder lernen schnell, dass Suppe allein am Abend nicht satt macht, und sie werden nie wieder vergessen, dass Geschäfte sonntags geschlossen sind. Es dauert nicht lange, dann wissen die Jugendlichen, wie man souverän auf Campingplätzen eincheckt, und dass man noch günstiger übernachten kann, wenn man mit den Leuten redet. Die Reisenden schlagen ihre Lager mal in einem Gewächshaus auf oder in einer Scheune. Sie schlafen in einer Kirche und in einer Schule. Sogar in einem Friseursalon kommen sie unter.

Anton hätte nie gedacht, in einer Bäckerei eine riesige Tüte voller Brötchen und süßen Sachen geschenkt zu bekommen. Hat er aber, als die Verkäuferin erfuhr, dass er sich mit drei Mitschülern 200 Kilometer von zuhause entfernt hat aussetzen lassen und nun den Weg zurück sucht. Mattis, der zum Feldberg marschiert, hätte nie damit gerechnet, dass eine Händlerin bei neuen Wanderschuhen 100 Euro im Preis nachlässt, wenn sie erfährt, was es mit den Wanderern auf sich hat. Und Fidan hätte es nicht für möglich gehalten, dass fremde Menschen beim Umsetzen eines schweren Kanus helfen, wenn man sie darum bittet.

„So ein Projekt hat Sprengkraft“

Schon möglich, dass den Schüler während ihrer Tour ein paar Englischvokabeln raus gehen. Wenn schon, kann man nachholen. Ist das Wissen, das sie stattdessen sammeln, nicht sehr viel mehr wert?

„So ein Projekt hat Sprengkraft“, sagt Martina Hoanzl, die den Schülern ihre Studenten von der Pädagogischen Hochschule mit auf den Weg gegeben hat. Fortwährend werde gefragt, was Kinder lernen sollen und wie sie das zu tun haben. Mindestens so wichtig sei jedoch zu wissen, was Kinder brauchen, um überhaupt lernen zu können: Vertrauen in sich selbst.

Nina Jegliewski fiel es schwer, nichts zu sagen, als ihre Kanutinnen am Abend eines anstrengenden Tages überlegten, wie sie ihren Bärenhunger stillen könnten. Die Vorräte sind leer, der nächste Supermarkt ist fünf Kilometer entfernt. Als die Mädchen beschließen, zu grillen, traut die Studentin ihren Ohren nicht. Grillen? Womit denn? Nun: eine nette Dame fährt die Schülerinnen flugs zum Laden, der Platzwart spendiert Grillkohle – und alles ist gut. Luisa Frank traute ihren Augen nicht, als sie ihre Bodensee-Wanderer einen sehr steilen, sehr matschigen Erdhang hinaufkraxeln sieht. Um Gottes Willen, wie soll das nur gut gehen? Indem die Jungs, die schon oben angekommen sind, die anderen an einer Wäscheleine hochziehen. Tim Wohlhüter musste sich zwingen, nicht helfend einzugreifen, als seine ausgesetzten Buben vor einer Karte im Irgendwo stehen und eine gangbare Route auf dem Weg nach Hause suchen. Den eingezeichneten Wanderweg entdecken sie nicht – weiter kommen sie trotzdem.

„Die sind richtig groß geworden“

Wenn die Jungen und Mädchen von ihren zwei Wochen im Leben erzählen, sind sie noch immer beeindruckt von der Freundlichkeit der Erwachsenen, die sie getroffen haben. „Die haben uns einfach vertraut.“ Berichten die Eltern von ihren heim gekehrten Kindern, scheinen sie noch immer nicht fassen zu können, wie sehr sie gereift sind. „Die sind richtig groß geworden.“ Schildern die künftigen Pädagogen ihre Lektionen aus der Praxis, war die beste Erfahrung das Loslassen. „Trau den Schülern alles zu, die schaffen das immer irgendwie.“

Eine Erkenntnis, die, wenn man genau hinschaut, nicht nur für Menschen gilt, die 13 oder 14 Jahre jung sind.