Warum passen zwei Menschen zusammen? In einer Serie sprechen besondere Paare über ihr Leben. Heute: Gisela und Wilhelm Keßler leiten eine Wohngruppe für behinderte Menschen.

Kernen - Schon der Hauseingang verrät, dass Gisela und Wilhelm Keßler ein ganz besonderes Leben führen. „Keßler“ steht auf dem obersten Klingelschild, darunter „Wohngruppe 1“ und „Wohngruppe 2“. Der Heilerziehungspfleger und die Krankenschwester haben das erste Außenwohnheim der Diakonie Stetten mit aufgebaut, sind bei der Eröffnung vor 33 Jahren mit eingezogen und haben dort ihre vier Kinder großgezogen. Mittlerweile leben 38 Menschen mit Behinderung in drei Häusern.

 
Frau Keßler, Herr Keßler, bei Ihnen sind Privat- und Berufsleben seit mehr als drei Jahrzehnten kaum zu trennen. Haben Sie sich denn auch bei der Arbeit kennengelernt?
Gisela Keßler Nein. Ich war 1977/78 über Silvester bei einer Kurzbibelschule, und da saß dieser bärtige Mann. Ich dachte, er würde von einer bestimmten Schweizer Bibelschule kommen, aber es war einfach nur der Memminger Heilerziehungspfleger Wilhelm. Mehr miteinander zu tun hatten wir aber erst, als ich Wilhelm zu mir in den CVJM-Jugendchor geholt habe. Von diesem Zeitpunkt an waren wir fast jedes Wochenende zusammen unterwegs und haben uns kennen- und lieben gelernt.
Wilhelm Keßler Die Musik, vor allem die christliche Musik, das war etwas Verbindendes. Ich kann mich noch erinnern, wie wir uns die halbe Nacht unsere Lieblingslieder vorgesungen haben.
Sie haben 1980 geheiratet, drei Jahre später ist dieses Außenwohnheim in Weiler eröffnet worden. Wie kam es dazu, dass Sie eingezogen sind?
Wilhelm K. Ich habe damals schon ein paar Jahre in dem Haus Elisabethenberg der Diakonie Stetten bei Waldhausen gearbeitet.
Gisela K. Man war von dort zu Fuß eine halbe Stunde in den Ort unterwegs. Manche Bewohner haben den Zaun als Schutz gebraucht, aber die fitteren, jüngeren Leute haben sehr darunter gelitten. Ihr Wunsch war groß, mit Unterstützung ein möglichst normales Leben zu führen.
Wilhelm K. Und so ist die Idee entstanden, ein Außenwohnheim zu gründen. Das war Anfang der 80er Jahre Thema in der Behindertenhilfe, weil es für viele Träger noch Neuland war. Das hat uns so beschäftigt, dass wir uns sogar überlegt haben, ins Allgäu – wo ich herkomme – zu gehen, um dort so ein Projekt zu starten. Aber dann war die Zeit doch reif, und wir wurden vom Vorstand gebeten, die Verantwortung für das erste Außenwohnheim zu übernehmen. Heute gehören solche Wohnformen zum Standard der Diakonie Stetten.
Gisela K. Wir waren uns von Anfang an sicher, dass dieses Modell funktioniert. Manche Vorgesetzten und Kollegen konnten es sich dagegen nicht vorstellen, dass sich die Bewohner – vor allem die männlichen – selbst versorgen sollen. Diese Kollegen wollten einen Speisesaal. Und wir wollten ein ähnliches Zusammenleben wie in einer Familie.
Und, hat es dann auch tatsächlich funktioniert?
Wilhelm K. Die erste Zeit war sehr spannend. Dieses Außenwohnheim war absolutes Neuland, und wir durften es mit Leben füllen und ausprobieren, was den Menschen gefällt. Das waren alles mobile Bewohner, die tagsüber in Werkstätten gearbeitet haben. Ansonsten haben wir die Zeit genutzt, um Kontakte zu Vereinen, zur Kirche oder Schule aufzubauen.
Gisela K. Die Begeisterung der Bewohner war groß: Sie durften entscheiden, was sie essen möchten, sie durften alles dafür einkaufen und es dann mit unserer Hilfe zubereiten. Wir haben uns ziemlich schnell einen Garten und ein Stückle zugelegt, wo wir viel selbst angebaut haben, Zwiebeln, Kartoffeln und Rüben für die Hasen. Am Wochenende haben wir oft einen ganzen Tag im Garten verbracht.
Wilhelm K. Es gab einen Bewohner, der im Heim als eher schwierig bekannt war. Der Wohlfühlcharakter eines normalen Hauses hat ihm so gutgetan, dass viele Probleme verschwanden. Er ist immer noch stolz darauf, hier zu wohnen.
War diese Art des Arbeitens und Lebens für Sie eine große Umstellung?
Wilhelm K. Am Anfang war es ungewohnt, nicht mehr nach der Arbeit nach Hause zu fahren. Wir waren Tag und Nacht mittendrin. Das würden manche sicher als Enge empfinden. Für mich enthält dieses Leben einen großen Reichtum. Es gab unsere Familie, es gab die große Familie der Bewohner, es gab die Familien der anderen Mitarbeiter, die ebenfalls mit Herzblut dabei waren. Das war eine unglaubliche Vielfalt.
Gisela K. Ich habe damals nicht gearbeitet. Unser Ältester war beim Einzug zwei Jahre alt, die anderen drei sind hier geboren. Ich wollte für die Kinder da sein und habe eben viel ehrenamtlich gemacht.
Wilhelm K. Da habe ich schon ein saumäßiges Glück mit meiner Frau gehabt, dass sie alles mitgetragen hat.
Gisela K. Ich bin auch stolz auf dich. Wenn man diese Arbeit nur als Job sieht, dann kann so ein Projekt nicht funktionieren. Davon sind wir überzeugt. Wir haben am Anfang gesagt, dass wir nach 15 Jahren alles Revue passieren lassen und uns überlegen, ob wir das immer noch wollen. Aber es war schnell klar, dass es für uns kein sinnvolleres Lebensmodell gibt.
Mussten Sie sich als kleine Familie auch Rückzugsorte schaffen?
Gisela K. Es war unsere Bedingung, dass wir eine eigene Wohnung haben und damit einen eigenen Bereich, wenn wir frei haben. Und die Bewohner haben sich auch daran gehalten – aber sie wussten, dass sie jederzeit zu uns kommen können, wenn es irgendwo brennt. Natürlich ist man sich auch in der Freizeit im Treppenhaus begegnet und hat miteinander geredet, aber das würde ich mit Nachbarn ja auch machen.
Wilhelm K. Ab und an waren wir auch ganz für uns. 1986 haben wir uns einen Wohnwagen angeschafft, der bei meinem Bruder im Allgäu stand. Wir waren dort oft und sind mit dem Caravan durch Europa gereist. Und wir haben gemerkt, dass wir einen Sonntag brauchen, auch wenn wir am Wochenende arbeiten. Unser Sonntag war dann bald der Donnerstag, den wir uns freigehalten haben. Das war auch wichtig für unsere Kinder: Sie wussten, dass sie uns an diesem Tag ganz für sich haben.
Inwiefern hat das Außenwohnheim das Familienleben geprägt?