430.000 Jahre alt sind Knochen, die Wissenschaftler in Nordspanien gefunden haben. Sie deuten sie als die Überreste eines Menschen, der schon erste Merkmale des Neandertalers zeigt. Bisher galt diese Menschenart als gerade einmal 100.000 Jahre alt.

Stuttgart - Würde uns heute ein Neandertaler begegnen, würden wir sein Gesicht als fremd erkennen.“ Davon ist Jean-Jacques Hublin vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig überzeugt. Die große Nase zum Beispiel, auffallende Wülste über den Augen und der kräftige Kiefer – wohl jeder Kontrolleur in der U-Bahn dürfte vermuten, dass sich unter die Passagiere des 21. Jahrhunderts ein Neandertaler gemischt hat.

 

Einige dieser auffallenden Gesichtszüge aber hatten bereits die Menschen, deren Überreste Juan-Luis Arsuaga von der Complutense-Universität in Madrid und seine Kollegen in der Zeitschrift „Science“ beschreiben. Das Verblüffende daran: die untersuchten Schädel sind rund 430 000 Jahre alt und stammen aus der Sima de los Huesos in der Sierra de Atapuerca im Norden Spaniens; der Name kann als „Knochengrube“ übersetzt werden. Offensichtlich sind die Wurzeln der Neandertaler also viel älter als bisher angenommen: „Im Studium haben wir noch gelernt, dass diese Menschenlinie nur hunderttausend Jahre alt ist“, erinnert sich der 60-jährige Jean-Jacques Hublin.

Neu entdeckte Fossilien und auch Erbgut-Analysen von längst verstorbenen Frühmenschen haben diese Einschätzung inzwischen korrigiert. Schon lange vor dieser Zeit spaltete sich irgendwo im westlichen Bereich der riesigen Landmasse Eurasiens vor 400 000 bis 500 000 Jahren eine Gruppe Menschen von anderen Linien der Zweibeiner im Osten Asiens und in Afrikas ab, schildert Jean-Jacques Hublin ebenfalls in „Science“ die jüngsten Ergebnisse. Genau in dieser Schlüsselzeit vor etwa 430 000 Jahren lebten die Menschen in der Sierra de Atapuerca. Das zeigen Juan-Luis Arsuaga und seine Kollegen mit unterschiedlichen Methoden.

Funde in der Knochengrube

Diese Knochengrube ist eine wahre Schatzkammer. Dort haben die spanischen Ausgräber bisher die Überreste von mindestens 28 Menschen aus dieser Zeit beschrieben. Die meisten Funde in anderen Regionen bestehen dagegen aus wenigen Einzelteilen. 17 Schädel von dort haben die Forscher jetzt untersucht, von denen viele fast vollständig erhalten sind. Während sich das Gesicht und vor allem der Kauapparat bereits deutlich hin zu den Neandertaler-Merkmalen entwickelt haben, ähnelt die Schädelhöhle mit dem Gehirn noch stark den Funden aus früheren Epochen. Offensichtlich entwickelten sich also die Eigenschaften der Neandertaler nicht in einem Zug, sondern nach und nach.

Die Entwicklung bis dahin schildert Jean-Jacques Hublin: Menschen lebten bereits vor 850 000 Jahren an den Rändern der Wälder, die damals zum Beispiel im heutigen England wuchsen. 200 000 Jahre später aber stießen die Gletscher aus dem Norden weit bis nach Mitteleuropa vor und vernichteten einen großen Teil des Lebensraums der Menschen. Danach sollten sich solche Eisvorstöße rund alle hunderttausend Jahre wiederholen. Sie drängten die Menschen im Westen Eurasiens in eine Sackgasse. Oft überlebten nur kleine Gruppen von Menschen in diesem Teil der Welt, die, wie Analysen des Erbguts verraten, untereinander kaum Kontakt hatten.

„Das aber sind optimale Voraussetzungen für eine Gendrift, in der zufällig bestimmte Eigenschaften erhalten bleiben und andere verschwinden“, erklärt Jean-Jacques Hublin. So starben bei den Eisvorstößen wohl immer wieder einmal isoliert lebende Menschengruppen und mit ihnen alle Erbeigenschaften aus, die es nur dort gab. Mit der Zeit blieben so zufällig bestimmte Eigenschaften übrig, die zum Beispiel die auffallenden Gesichtszüge der Neandertaler formten.

Warum verschwanden die Neandertaler?

Vor rund 50 000 Jahren besiedelten dann moderne Menschen, die sich in Afrika entwickelt hatten, Eurasien und trafen dort auf die Neandertaler. Die Alteingesessenen waren zwar gut an die harschen Bedingungen der Eiszeiten angepasst, trotzdem kamen die Neuankömmlinge offensichtlich besser zurecht, und die Neandertaler verschwanden mit der Zeit. „Was die modernen Menschen besser konnten, muss man aber nicht unbedingt in den Fossilien oder in den archäologischen Funden sehen“, meint Jean-Jacques Hublin. Die Unterschiede können auch in den Verhaltensweisen gesteckt haben. Vielleicht war eine der Gruppen aggressiver oder arbeitete in größeren Teams und vielleicht auch effektiver zusammen? Die Analyse des alten Erbgutes liefert jedenfalls Hinweise auf diese Überlegung. Moderne Menschen und Neandertaler unterscheiden sich in gerade einmal 87 Proteinen voneinander, eine große Gruppe davon ist für die Funktion und die Entwicklung des Gehirns wichtig.

Auf die Frage, was Jean-Jacques Hublin denn gern von den Neandertalern wissen würde, gibt er daher gern eine verblüffende Antwort: „Wie sie sich ihren Schwägern gegenüber verhalten haben.“ Die Frage liegt durchaus nahe: Schließlich haben die Adelshäuser der modernen Menschen früher gern über Hochzeiten Allianzen mit ihren Nachbarn geschlossen und so ihre eigene Position gestärkt. Sollten die Neandertaler solches Verhalten nicht gekannt haben, könnte das einer der Gründe für die Überlegenheit der Neuankömmlinge gewesen sein.