Sieben renommierte Palliativmediziner wollen das Sterbehilfegesetz kippen. Darunter ist auch der Stuttgarter Arzt Dietmar Beck. Die Ärzte sind in Sorge, nicht mehr tun zu können, was ihr Auftrag ist: helfen.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Stuttgart - Vielleicht ist es kein Zufall, dass Dietmar Beck ein Arzt ist, der ohne weißen Kittel auftritt, denn der Mann mit dem freundlichen Blick ist keiner, der in der letzten Phase des Lebens seiner Patienten mit großen Heilsversprechen aufwartet und Hightechmedizin auffährt. Becks Kompetenz speist sich aus langjähriger Erfahrung als Notarzt, Schmerztherapeut und Facharzt für Palliativmedizin im Krankenhaus und aus der Zeit als Leiter des evangelischen Hospizes Stuttgart. Sie fußt aus seinem Selbstverständnis, sich für seine Patienten viel Zeit zu nehmen, und dem Wissen um die medizinischen Möglichkeiten und Grenzen am Ende eines Lebens. Seine Disziplin ist das Aushalten und Beistehen. Das hat viel mit Nähe und Vertrauen zu tun. Gerade deshalb sind die Erwartungen seiner Patienten an ihn groß.

 

Es sind Fälle wie die des an der Nervenkrankheit ALS leidenden und vom Erstickungstod bedrohten Peter Römer (Namen geändert), die Beck bewogen haben, zusammen mit drei weiteren Ärzten gegen das seit gut einem Jahr geltende Sterbehilfegesetz Verfassungsbeschwerde einzulegen. Denn ob er Peter Römer bei strenger Auslegung des Gesetzes noch beistehen könnte, ist nicht mehr klar.

Der Bundestag wollte Sterbehilfevereine im Stil des Hamburgers Roger Kusch verbieten. Bis dahin war die Beihilfe zum Suizid grundsätzlich straffrei und wenn jemand einem Kranken half, sich ein tödliches Mittel zu verschaffen, wurde er nicht bestraft. Seit Dezember 2015 wird, „wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt“, mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft.

Beschwerde: Palliativmediziner werden in ihre Berufsausübung behindert

„Wenn ein Patient fragt, ob die gehortete Medikamentendosis tödlich für ihn sei, darf der Arzt streng genommen nicht antworten. Dieses Gespräch kann geschäftsmäßige Sterbehilfe sein“, erklärt die Filderstädter Fachanwältin für Medizinrecht, Petra Vetter. Sie hat die Beschwerde verfasst. Ein solches Patienten-Arzt-Gespräch wird gefährlich für den Arzt, wenn der Kranke daraus gestärkt in seinem potenziellen Suizidgedanken herausgeht. Denn der Befragte antworte als Arzt. Und weil er seine Überzeugung und ethische Gesinnung nicht täglich wechseln werde, sei es auf Wiederholung ausgelegt, so Vetter weiter. Das sei ein Kennzeichen der Geschäftsmäßigkeit.

Palliativmediziner wie Dietmar Beck werden nun in „ihrer Berufsausübung nach ihrem ärztlichen Gewissen im Kern betroffen und behindert“, schreibt Petra Vetter in der Beschwerdeschrift. Sie handeln in einer rechtlichen Grauzone, wenn sie als Ärzte das tun, was Teil ihres Auftrags und ihres Selbstverständnisses ist. Als diejenige Ärztegruppe aber, die ausschließlich Schwerstkranke als Patienten haben, sind gerade sie es, an die der Wunsch nach Hilfe beim Suizid herangetragen wird.

Aus dem ethischen ist ein rechtlicher Konflikt geworden

Zwar gilt auch in diesem intimen Arzt-Patienten-Verhältnis: Wo kein Kläger, da kein Richter. Aber sich darauf zu verlassen ist Beck und den anderen Beschwerdeführern zu wenig und steht konträr zu seinem alltäglichen Tun. Beck ist Leiter des Palliative Care Teams in Stuttgart, das am Diakonieklinikum seinen Sitz hat. Er wird zurate gezogen, wenn es darum geht, Leiden zu lindern und gleichzeitig Lebensqualität zu bewahren. 500 Patienten betreut das Team im Schnitt jährlich, viele davon zu Hause oder in Pflegeheimen. Nur eine Handvoll konfrontiert Beck mit Selbstmordwünschen. Aber auch das gehört zu seinem Selbstverständnis als Palliativmediziner: Er prüft genau, ob der Patient diesen Weg eigenverantwortlich einschlagen kann und will – und stellt sich ihm.

So hat er in der Vergangenheit über fast drei Monate einer 75-jährigen Frau zur Seite gestanden, die nach drei gescheiterten Selbstmordversuchen einen weiteren Versuch unternommen hatte, sich mit einer Schusswaffe in den Kopf zu schießen und dabei erblindet war. Die Frau wusste bereits, dass letztlich der Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit zu ihrem Tod führen würde. Beck unterstützte sie in ihrem sogenannten Sterbefasten durch die Gabe von Beruhigungsmitteln, die ihren Zustand linderten. „Ihr nicht zu helfen wäre strafbar gewesen“, sagt er und benennt den Konflikt, in dem er sich in entsprechenden Fällen befindet: Helfen oder nicht helfen? Seit einem Jahr ist aus dem ethischen Konflikt auch ein rechtlicher geworden.Parallel zu der Beschwerde aus Filderstadt vertritt die Münchner Kanzlei Putz und Steldinger drei renommierte Palliativmediziner. „Das Gesetz behindert sie in ihrer Behandlung Sterbender“, sagt Wolfgang Putz ebenso wie Petra Vetter. Sie kämpft seit vielen Jahren für Patientenrechte und Patientenautonomie – besonders am Ende des Lebens. Für sie ist die Beschwerde der Ärzte denn auch eine, in der es nicht nur um die Klärung ihrer Interessen geht. Für Vetter und die Ärzte, die sie vertritt, geht es auch um Grundsätzliches: das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient, das gerade in der letzten Lebensphase von großer Bedeutung ist.

Jeder vierte Schwerstkranke sagt irgendwann, dass er den Wunsch hat zu sterben

Fast zwangsläufig äußert in diesem Stadium des Lebens laut Studien jeder vierte Patient einmalig oder dauerhaft den Wunsch zu sterben. Zwar hat der Bundestag bei der Neuregelung vier fraktionsübergreifend eingebrachte Vorschläge ausgiebig diskutiert, um die Arbeit von sogenannten Sterbehilfevereinen unter Strafe zu stellen. Aber dass Ärzte von diesem Verbot nicht betroffen seien, liest Vetter nicht aus dem kurzen Gesetzestext. „Das Gesetz kriminalisiert nicht nur die Tätigkeit von Sterbehilfevereinen, sondern auch den ärztlich assistierten Suizid“, argumentiert die Medizin-Fachanwältin. Die Politik hat – ob versehentlich oder absichtlich – das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und Ärzte in die Situation gebracht, dass sie Gespräche, in denen der Wunsch nach Suizidhilfe aufscheint, „bei derzeitiger Rechtslage am besten unter Zeugen abbrechen müssen“, sagt Vetter. Und das sei für Arzt und Patienten unzumutbar. Die Sternstunde, als die auch diese Bundestagsdebatte gilt, hat also verheerende Folgen für die Ärzte.

Um die verzweifelte Lage seines ALS-Patienten Peter Römer zu verdeutlichen zeigt Dietmar Beck einen kurzen Film. Beck ist kein lauter Mensch, hört aufmerksam zu – und ist nach genauem Abwägen auch klar in dem, was er sagt: „Ich frage mich, ob ich Herrn Römer nicht beim Suizid hätte helfen sollen und ihm dafür ein Medikament hätte zur Verfügung stellen sollen.“ Er startet den Film. Zu sehen ist Peter Römer, der am Tisch in seiner Wohnung sitzt. Er hat den linken Arm auf den Tisch gestützt, die Hand hält den Kopf. „Er ist so schwer“, sagt er in die Kamera und zu seinem Besucher Beck. Seit einem Jahr ist Peter Römer zu diesem Zeitpunkt Becks Patient. Peter Römer will erzählen und hat Beck gestattet, sein Ringen mit der Krankheit zu dokumentieren.

„Wenn ich könnte, würde ich mich die Treppe herunterstürzen“

„Ich sterbe seit viereinhalb Jahren“, sagt Römer, „wenn ich könnte, wollte ich sofort tot sein.“ Es ist Sommer 2013. Seit 2009 leidet er an der Nervenkrankheit ALS. Er frage nicht nach einem tödlichen Mittel, weil er seinen Arzt nicht in Schwierigkeiten bringen wolle, sagt er. Den Gang in die Schweiz zu einer Sterbehilfeorganisation hat er verworfen. Aber er hat Krämpfe, lebt mit einer Beatmungsmaschine, die er fast den ganzen Tag braucht, um Luft zu bekommen. Beck hat ihm Medikamente gegen die Atemnot und gegen die Angst verschrieben. Peter Römer hat einen Physiotherapeuten, hat ständige Betreuung durch seine Frau und eine Pflegekraft. Beck steht ihm ständig als Ansprechpartner zur Verfügung. Dennoch ist Römer nur noch ein Schatten seiner selbst, ein Häufchen Mensch, das nach über vier Jahren Kampf gegen das langsame Ersticken keinen Sinn mehr in seinem Leben sieht. In einem schier unvorstellbaren Akt der Selbstbeherrschung hat er ein halbes Jahr vor den Filmaufnahmen versucht, sich mit einer alten Pistole in den Kopf zu schießen. Aber die Kraft reichte dann doch nicht aus, die Pistole richtig auf die Stirn zu setzen und er verletzte sich nur unbedeutend.

„Ich bin so kraftlos, so schwach, das ist ganz arg schlimm. Ich kann einfach nicht mehr“, sagt er bei klarem Verstand, „ich kann einfach nicht mehr. Wenn ich könnte, würde ich mich die Treppe herunterstürzen.“ Zwei Wochen nach den Aufnahmen stirbt Römer im August 2013 im Schlaf. Mit einem Medikament hat Beck ihn palliativ sediert, wie es im Fachjargon heißt, also in einen wohldosierten und überwachten Narkosezustand versetzt. Würde Beck ihm zum heutigen Stand frühzeitig ein tödliches Medikament überlassen, wäre das strafbar. Er hofft, dass das Bundesverfassungsgericht das Sterbehilfegesetz kippt.

Das Gericht hat die Beschwerden angenommen und sie an Verbände, Ministerien, Kirchen und Interessengemeinschaften zur Stellungnahme weitergereicht. Für Herbst erwarten die Beschwerdeführer eine Antwort aus Karlsruhe.