Papst Franziskus hat bei seinem Besuch im EU-Parlament eine menschlichere Flüchtlingspolitik angemahnt. Das Mittelmeer dürfe nicht zum Friedhof werden. Er kritisiert das Fehlen gegenseitiger Unterstützung.

Strassburg - Martin Schulz, nach eigenem Bekunden nicht der religiöseste aller Menschen, ist ganz beseelt. Bescheiden, weich, sanft, lieb im allerbesten Sinne sei dieser Mensch, heißt es nach der privaten Unterredung mit Papst Franziskus aus dem Umfeld des deutschen Präsidenten des Europaparlaments. Und solche Attribute sind im harten politischen Geschäft eigentlich eher hinderlich. Der Faszination dieses so ganz anderen Papstes können sich auch die spanischen Kommunisten im Europaparlament nicht entziehen, die doch eigentlich zuvor angekündigt hatten, den Saal zu verlassen, wenn der Pontifex im Straßburger Plenarsaal auftrete. Protestaktionen wie beim Besuch von Johannes Paul II. vor 26 Jahren bleiben aus, die meisten lauschen gebannt.

 

„Papst Franziskus ist eine Persönlichkeit, die Orientierung gibt in Zeiten der Orientierungslosigkeit“, hat Martin Schulz zuvor zur Begrüßung gesagt. Übersetzt werden muss dem Papst dieses Lob nicht – denn auch sein gutes Deutsch ist Teil der Geschichte dieses nur vierstündigen Besuchs im Elsass beim Europaparlament.

Schon am Straßburger Flughafen hat der oberste Repräsentant einer Milliarde Katholiken Deutsch gesprochen – mit Kardinal Reinhard Marx, der derzeit nicht nur der deutschen, sondern auch der europäischen Bischofskonferenz vorsteht.

Eine Umarmung mit seiner früheren Herbergsmutter

Gelernt hat der Papst die Sprache am Küchentisch von Helma Schmidt. Die heute 97-Jährige war 1985 am Goethe-Institut von Boppard in Rheinland-Pfalz tätig, als ein argentinischer Priester namens Jorge Mario Bergoglio dort einen Deutschkurs besuchte. Der Unterricht ging in Schmidts Wohnung weiter, wo der künftige Papst zwei Monate lang wohnte. Zum Wiedersehen in Straßburg umarmt er sie freudig. Private Unterredungen gibt es auch mit EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker und Italiens Premier Matteo Renzi.

Im Mittelpunkt aber steht seine Rede. Spontan wie manch andere seiner Auftritte geraten seine auf Italienisch gehaltenen Ausführungen nicht, sie haben es dennoch in sich. „Der Papst“, wird Parlamentspräsident Schulz später sagen, „hat uns einiges ins Stammbuch geschrieben.“

Zentrales Thema der päpstlichen Ansprache ist die Menschenwürde und der Verlust derselben, wenn die individualisierte Gesellschaft sich nicht mehr ausreichend um ihre schwächsten Mitglieder kümmert. Dies sei „eine der Krankheiten, die ich heute in Europa am meisten verbreitet sehe“, so Franziskus: „Das wird speziell sichtbar bei den alten Menschen, die oft ihrem Schicksal überlassen sind, wie auch bei Jugendlichen, die keine Bezugspunkte und keine Zukunftschancen haben; es wird sichtbar bei den vielen Armen, die unsere Städte bevölkern; es wird sichtbar in dem verlorenen Blick der Migranten.“

Die Flüchtlingspolitik ist dem Papst ein Dorn im Auge

Die EU-Flüchtlingspolitik – das war spätestens seit Franziskus’ Besuch auf Lampedusa kurz nach seinem Amtsantritt klar – ist ihm ein besonderes Dorn im Auge. „Man kann nicht hinnehmen, dass das Mittelmeer zu einem großen Friedhof wird“, mahnt er und kritisiert „das Fehlen gegenseitiger Unterstützung“. Das wird als eindeutiger Seitenhieb auf das sogenannte Dublin-System verstanden, das Abschiebungen in jene EU-Staaten ermöglicht, in dem ein Flüchtling zuerst europäischen Boden betritt. Die Grünen applaudieren heftig, und der CDU-Gruppenchef Herbert Reul zeigt sich danach „tief bewegt“ auch von den „unbequemen Wahrheiten“, die Franziskus angesprochen habe: „Wir müssen dem Anspruch gerecht werden, dass die christlichen Wurzeln der europäischen Zivilisation auch unser heutiges Handeln bestimmen.“

Franziskus liest Europa jedoch nicht nur die Leviten – er will dem „Bild eines etwas gealterten und erdrückten Europas“ auch eine „Botschaft der Hoffnung und Ermutigung“ entgegensetzen. Die Europaabgeordneten sollten beispielsweise „daran arbeiten, dass Europa seine gute Seele wiederentdeckt“. Und der Papst buchstabiert ganz konkret, was er darunter versteht: „Die Stunde ist gekommen, gemeinsam das Europa aufzubauen, das sich nicht um die Wirtschaft dreht, sondern um die Heiligkeit der menschlichen Person.“

Seine Heiligkeit verlässt nach zwei Stunden das Parlament, um den benachbarten Europarat zu besuchen, wo er auf die Bedeutung des Friedens eingehen wird. Entlang des roten Teppichs stehen Parlamentsmitarbeiter, die Stimmung ist nicht ekstatisch. Nur zwei junge Mädchen kreischen verzückt, als der Papst zusammen mit Schulz in ihre Kameras lacht. Ganz wild rufen sie: „Ciao , Francesco!“