Paralympics-Gewinner Heinrich Popow erzählt von seinem schmerzhaften Weg zur Weltspitze. Seine Geschichte soll Menschen mit ähnlichem Schicksal motivieren und ihnen Mut machen.

Feuerbach - Es ist eine Kulisse, wie gemalt für dieses schöne Szenario: Auf einem Dach stehen zwei Männer auf einer Tartanbahn, im Hintergrund die Skyline von Feuerbach. Wie in der Dauerschleife spurtet der eine von ihnen immer wieder aufs Neue los. Nach etwa 100 Metern bremst er, läuft aus und trabt wieder an seinen Startpunkt zurück. „Und jetzt du“, sagt er zu dem anderen, ebenfalls austrainiert wirkenden Mann. Der schaut zunächst etwas ungläubig. Dann geht er zögerlich los, „einfach machen“, ruft ihm sein Trainingspartner noch hinterher. Mit jedem Schritt wird er sicherer, er läuft, schließlich sprintet er, die anfangs angespannte Mimik weicht einem Grinsen.

 

Paralympics-Sieger im 100-Meter-Sprint

Es ist das erste Mal seit 13 Jahren, dass Murat Matur gerannt ist. Sein Trainingspartner und Motivator an diesem Tag ist kein geringerer als der amtierende Paralympics-Sieger im 100-Meter-Sprint; der deutsche Athlet Heinrich Popow. Die beiden Männer verbindet dasselbe Schicksal: ihnen wurde in Folge einer Krebserkrankung ein Bein amputiert, bis hinauf zum Oberschenkel. Der 30 Jahre alte Popow war am Dienstag im Haus der Gesundheit in Feuerbach zu Gast, um mit Betroffenen wie Matur das Laufen zu üben und über Möglichkeiten des Behindertensports zu informieren. Anlass seines Besuchs war der 75. Geburtstag des Sanitätshauses Glotz, welches im Haus der Gesundheit eine Filiale besitzt und sich auf Produkte aus dem Bereich Gesundheit und Fitness spezialisiert hat.

In einem anschließenden Vortrag gewährte der in Kasachstan geborene Spitzensportler Popow einen sehr intimen Einblick in seine Karriere – und sein Innenleben. Zahlreiche Zuhörerinnen und Zuhörer, darunter viele selbst (ehemals) an Krebs Erkrankte, wurden so Zeuge einer noch jungen Biographie, die von Rückschlägen gespickt ist – und doch mit einer goldenen Krönung jüngst ihren Höhepunkt erreichte.

Training mit den nichtbehinderten Leichtathleten

Im Jahr 1992 wird, im Alter von neun Jahren, bei Popow Knochenkrebs diagnostiziert. Er muss sich einer Chemotherapie unterziehen, sein Arzt räumt ihm nur eine geringe Überlebenschance ein. Weil der Krebs rezessiv ist, also wieder kommen und streuen könnte, nehmen ihm die Ärzte nach überstandener Chemotherapie sein linkes Bein ab. Noch vor der Amputation besucht ihn der paralympische Radrennfahrer Arno Becker. Dieser hatte sich ebenfalls einer Bein-Amputation unterziehen müssen. „Er versprach mir, dass ich bald wieder alles machen könne, was ich will. Ich müsste mich nur mehr anstrengen als andere“, erzählt Popow. „Mehr anstrengen als die anderen“: Beckers Worte von damals wurden für Popow zum Credo, sein Vater ließ etwaige Ausreden erst gar nicht aufkommen. Deshalb spielte Popow weiter Fußball mit seinen Freunden, mit einem Bein: „So habe ich gelernt, dass ich mich über den Sport integrieren kann.“ Er arbeitete hart an sich, bis er im Sportunterricht nicht mehr als Letzter, sondern als Erster gewählt wurde – und im Jahr 2001 TSV Bayer 04 Leverkusen auf ihn aufmerksam wurde. Seitdem trainiert er dort, zusammen mit den nichtbehinderten Leichtathletinnen. Es dauerte jedoch bis 2008, ehe ihm der Durchbruch gelang. Gemeinsam mit dem Technologiekonzern Otto Bock vereinbarte er eine Kooperation, bei der eine für ihn perfekte Lauf-Prothese entwickelt werden sollte. Dazu musste er zahlreiche Tests mit immer neuen Prothesen absolvieren, bis schließlich ein Schwenkhydraulik-System gebaut werden konnte, das seinem natürlichen Bewegungsablauf entspricht. „Dass ich heute so glücklich bin und Gold in London gewinnen konnte, das habe ich diesem System zu verdanken“, sagt Popow. Das Prothesenmodell nennt sich „3 S 80“. Es ist dasselbe, mit dem der einseitig amputierte Murat Matur am Dienstag auf der Tartanbahn erstmals wirklich rennen konnte.

„Ich bin nun eins mit meiner Prothese“

Bis sich Popow an das künstliche Bein gewöhnt hatte, dauerte es jedoch eine ganze Weile. Bei den Paralympics 2008 in Peking gewann er zwar mit einer Zeit von 12,98 Sekunden über 100 Meter die Silbermedaille – er war jedoch trotz der neuen Spezial-Prothese nur um zwei tausendstel Sekunden schneller als bei den Paralympischen Spielen in Athen 2004. Dass die „3 S 80“ funktioniert, zeigte sich jedoch schon ein Jahr später. Bei der „IWAS Weltmeisterschaft“ 2009 in Bangalore holte er sich mit einer Zeit von 12,29 Sekunden Silber und war damit um sieben Hundertstel schneller geworden. Als er bei den Paralympics 2012 in London vor 80 000 Zuschauern Gold über 100 sowie Bronze über 200 und über vier Mal 100 Meter erläuft, ist er endgültig sicher: „Ich bin nun eins mit meiner Prothese und mit meiner Behinderung.“ Vor seinem Triumph bei der „IPC-Weltmeisterschaft“ im Sommer dieses Jahres in Lyon läuft Popow über 100 Meter gar einen neuen Weltrekord und verbessert die 17 Jahre lang bestehende Marke des Kanadiers Earle Connor auf 12,11 Sekunden.

Die Laufprothese kostet zwischen 16 000 und 18 000 Euro

Zurück zu Murat Matur. Nach dem lebhaften Vortrag Popows über dessen Entwicklung ist der 37 Jahre alte Esslinger überzeugt: „Spitzensportler werde ich in meinem Alter mit Sicherheit nicht mehr.“ Und dennoch hat ihm die Prothese, die er noch immer an seinem rechten Oberschenkel trägt, neue Hoffnung vermittelt. „Es ist ein unglaubliches Gefühl zu rennen, ein Gefühl von Freiheit“, sagt er. Ansonsten trägt Matur eine Alltagsprothese, mit der er nicht schneller gehen kann als Schrittgeschwindigkeit. Eine Sport-Prothese hat er noch nie getragen, er habe gar nicht gewusst, dass es sie gibt. „Früher sagte mein Kopf mir oft: Ich will rennen, aber der Körper konnte einfach nicht.“

Zwei Wochen noch darf Matur die „3 S 80“ Probetragen – ein Angebot des Sanitätshauses, das die Prothese vertreibt. Danach will Matur bei seiner Krankenkasse einen Antrag auf Kostenübernahme stellen: die Lauf-Prothese kostet je nach individueller Fertigung zwischen 16 000 und 18 000 Euro. Jochen Weigel, Orthopädietechnikermeister in Gerlingen, schätzt die Chancen sehr gut ein: „Solche Leistungen fallen unter das Sachleistungsprinzip, das unter anderem besagt, dass jeder Behinderte notwendig versorgt werden muss.“ Mit einer Alltagsprothese könne man eben nicht Laufen oder Schwimmen gehen und somit – anders als es der Name suggeriert – auch nicht am Alltag teilnehmen. „Dieses Bewusstsein und die Bereitschaft zur Kostenübernahme wächst bei den Krankenkassen zum Glück immer mehr“, ist Weigel überzeugt. Seiner Ansicht nach ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch Matur wieder rennen kann – und zwar schneller als sieben Stundenkilometer.