Probanden haben in wissenschaftlichen Experimenten zukünftige Ereignissse vorhergesagt. Die Wiederholung jedoch scheiterte.

Stuttgart - Auf einem Computerbildschirm sind zwei geschlossene Vorhänge zu sehen, einer links, einer rechts. Hinter einem erscheint beim Klicken darauf ein erotisches Bild, hinter dem anderen eine nackte Wand. Es gilt natürlich, auf den Vorhang zu klicken, der das interessantere Bild verbirgt. Wer bei diesem Experiment einfach rät - und etwas anderes bleibt ja offenbar nicht übrig - hat eine Chance von 50 Prozent, per Zufall richtig zu tippen. Doch als hundert Versuchspersonen je 36-mal raten mussten, kamen sie auf eine Trefferquote von 53 Prozent. Durch pures Glück ist das kaum zu erklären.

Die Teilnehmer der Studie scheinen also Ereignisse zu ahnen, die noch gar nicht eingetreten sind. Denn erst nach ihrer Wahl bestimmt ein Zufallsgenerator, wo das Bild auftauchen wird. "Die Zukunft fühlen" überschrieb der emeritierte Psychologe Daryl Bem seinen Bericht über dieses und andere Experimente, der demnächst im "Journal of Personality and Social Psychology" erscheinen soll. Schon jetzt sorgt er in der Fachwelt für lebhafte Reaktionen. Denn die Zeitschrift ist eine der renommiertesten des Fachs und Bem kennt jeder, der im Psychologiestudium aufgepasst hat. Der Sozialpsychologe forscht an der Topuniversität Cornell in Ithaca.

Neun Experimente mit mehr als 1000 Teilnehmern


Bem präsentiert neun Experimente mit insgesamt mehr als tausend Teilnehmern. Acht Versuche sprechen dafür, dass Menschen in die Zukunft sehen können - wenn auch in eher bescheidenem Umfang. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Treffer nur durch Zufall zustande gekommen sind, beträgt laut Bem 1 zu 74 Milliarden. Acht Jahre hat Bem an diesen Studien gearbeitet. Damit niemand die Ergebnisse unabsichtlich beeinflussen konnte, liefen die Experimente automatisch am Computer ab.

Dabei ging es zu wie im von Bem erwähnten Wunderland der kleinen Alice. Sie wird einmal von der Weißen Königin belehrt, dass ein Gedächtnis doch sehr armselig sei, wenn es sich nur an Vergangenes erinnert. Die Königin erinnert sich am besten an Dinge, "die übernächste Woche geschahen". Nach dieser Logik ließ Bem Versuchspersonen einen Teil der Wörter einer langen Liste lernen. Doch abgefragt wurden sie schon vorher, nämlich nachdem die Versuchspersonen nur einmal kurz die ganze Liste gesehen hatten. Trotzdem schrieben die Probanden bevorzugt die Wörter auf, die sie nachher erst üben würden.

Besonders gut schnitten in den meisten Experimenten diejenigen Menschen ab, die immer auf der Suche nach neuen Reizen sind und sich schnell langweilen (sogenannte Sensation Seekers, also Sensationssucher). Das war schon in früheren Studien aufgefallen. Den Grund kennt niemand.

Daryl Bem vermutet ganz allgemein, dass sich parapsychologische Fähigkeiten im Lauf der Evolution entwickelt und als nützlich erwiesen haben könnten - etwa bei der Partnersuche und vor großen Gefahren. Daher verwendet er oft erotische Bilder und Schockmotive. Die außersinnliche Wahrnehmung könnte ja auf Sex und Säbelzahntiger geeicht sein.

Wie allerdings Ereignisse in der Zukunft die momentane Wahrnehmung beeinflussen könnten, weiß Bem auch nicht. Er hat jedoch Physik studiert, bevor er sich der Psychologie zuwandte. So kann er darauf verweisen, dass auch in der modernen Quantentheorie vieles dem gesunden Menschenverstand widerspricht. Aber hat Bem überhaupt bewiesen, dass Menschen in den Zukunft blicken können? Viele Psychologen glauben das nicht.

Am weitesten geht ein Team der Universität Amsterdam um Eric-Jan Wagenmakers. Er wirft Bem vor, die Daten mit den falschen statistischen Methoden auszuwerten. Allerdings räumt Wagenmakers ein, dass diese Methoden verbreitet sind. Daher sei "etwas grundlegend falsch mit der Art, in der experimentelle Psychologen ihre Studien anlegen und auswerten". Hinter der Kritik verbirgt sich mithin ein Grundsatzstreit, in den Bem eher zufällig hineingeraten ist. Fehler konnten die Skeptiker bis jetzt nicht nachweisen. Selbst der ausgewiesene Parapsychologiekritiker Richard Wiseman von der Universität von Hertfordshire fand nur eine Kleinigkeit, und die hat Bem inzwischen ausgeräumt.

Unabhängige Wiederholungen der Versuche waren bisher nicht möglich


Bleibt die große Frage, ob andere Wissenschaftler die Ergebnisse werden bestätigen können. Unabhängige Wiederholungen der Versuche sind seit jeher die Achillesferse der Parapsychologie, wie Ray Hyman von der Universität des US-Bundesstaats Oregon erst diesen Sommer wieder beklagte. Der führende Kritiker bemängelt, die Parapsychologen hätten es in "mehr als einem Jahrhundert nicht geschafft, auch nur ein einziges reproduzierbares Experiment hervorzubringen". Anlass für die Kritik war eine Debatte über die jüngste große Anstrengung der Parapsychologie: die Ganzfeld-Studien. Auch Bem war maßgeblich an ihnen beteiligt. Er sollte Fehler in den ersten Ganzfeld-Experimenten finden. Als ihm dies nicht gelang, stieg er selbst als Forscher ein.

Das Ganzfeld ist einfach ein rotes Nichts, in das die Versuchsperson blickt. Denn sie hat halbe Tischtennisbälle auf den Augen, die von rotem Licht beschienen werden. Auf diese Weise von der normalen Wahrnehmung abgeschnitten, soll sie Gedanken von einem "Sender" empfangen, der sich beispielsweise auf ein Bild des Weihnachtsmanns mit Coca-Cola-Flasche konzentriert. Einem Versuchsteilnehmer kam dabei ein "Mann mit einem dunklen Bart" in den Sinn sowie eine Coca-Cola-Werbetafel. Bis heute ist umstritten, ob neuere Studien die ursprüngliche Erfolgsmeldung von 1985 bestätigen.

Bei Bems aktueller Studie läuft es nicht unbedingt besser. Forscher in Schweden, England und den USA konnten seine Ergebnisse nur bedingt oder gar nicht bestätigen. Wer will, kann das Wörter-Lern-Experiment im Internet selbst probieren (siehe Infokasten). Es dauert eine Viertelstunde, dann folgt auch schon die Auswertung. Bei einem Versuch des Autors lautete sie übersetzt: "Wir haben eine außersinnliche Wahrnehmung von 0 Prozent für sie errechnet." Den meisten anderen der bisher gut 300 Teilnehmer ging es nicht besser.

Warum klappt es bei Bem mit dem Übersinnlichen und bei den Kollegen nicht? Zum aktuellen Fall spottet ein britischer Psychologieblogger: "Vielleicht ist was im Trinkwasser der Cornell-Universität."