Nach den Attentaten von Freitagabend steht Paris unter Schock. Nur wenige Menschen trauen sich auf die Straßen, um an den Tatorten der Opfer zu Gedenken. Der Innenminister ruft zur nationalen Einheit auf – und viele sprechen von Krieg.

Paris - Sie ringen um Worte. Wie soll man darüber reden: über die große innere Leere, über den Verlust eines geliebten Menschen? Gewiss, im Bezirksrathaus des 11. Pariser Arrondissements, wo nach den Terroranschlägen vom Freitagabend eine Betreuungsstelle eingerichtet wurde, leisten Psychologen seelisch Schwerverletzten Erste Hilfe. Die Experten empfehlen, über den Verlust zu sprechen. Aber wie?

 

Zu denen, die mit starrer Miene und glasigem Blick durch die Rathaustür treten, zählen nicht nur diejenigen, die nach Stunden des Bangens und Hoffens erfahren haben, dass Familienangehörige oder Freunde unter den 129 Toten sind, die auf den Bistroterrassen der Umgebung, dem Konzertsaal Bataclan oder auch vor dem Fußballstadium in der Vorstadt Saint-Denis geborgen wurden. Rat und Hilfe suchen auch Augenzeugen, die nicht fassen können, was sie gesehen haben. Ein Mann tritt auf den von Bäumen und Beeten gesäumten Vorplatz des Rathauses, versucht zu sprechen. Er schluchzt, beginnt zu stammeln, verstummt wieder. Dann macht er deutlich: Seine Frau zählt zu den 82 Toten des Bataclan, und er weiß nicht, wie er den Kindern den Verlust der Mutter, den Schwiegereltern den Verlust der Tochter beibringen soll.

Hinrichtung durch Kopfschuss

Im Bataclan, wo die Band Eagles of Death Metal am Freitagabend 1500  Rockfans einheizte, hatten die Terroristen besonders schlimm gewütet. Am Sonntag in Endlosschleife verbreitete Bilder und Zeugenaussagen führen der ganzen Nation vor Augen, was sich dort zugetragen hat. 21.50 Uhr ist es, als vier Männer mit Maschinenpistolen hereinstürmen. Allah Akbar, Allah ist groß, brüllt einer. Die vier eröffnen das Feuer, schießen blindlings in die Menge. Band-Mitglieder suchen hinter Instrumenten Deckung, bringen sich hinter der Bühne in Sicherheit. Ein paar Zuschauer flüchten in einen Seitenraum. Sie halten den Atem an, verfolgen durch einen Türspalt das Geschehen. Die Angreifer feuern auf alles, was sich bewegt. Vor ihnen knieende Menschen werden durch Kopfschuss hingerichtet.

An diesen Orten haben die Terroristen angegriffen:

Zur inneren Leere tritt die äußere. Der Markt im Marais, wo sich Pariser und Touristen sonntags vor Käse-, Fisch- und Obstständen drängen, ist verwaist. Bis Donnerstag haben in der Hauptstadt sämtliche Märkte zu schließen. Die Reihen der am Wochenende durch das Viertel trabenden Jogger haben sich gelichtet. Zu den wenigen, die auf die sonntägliche Ertüchtigung nicht verzichten wollen, zählt ein Mann in knallrotem T-Shirt. Aber auch er scheint dem Terror Tribut zu zollen. In befremdlicher Haltung bewegt er sich vorwärts, die Hände gefaltet wie zum Gebet. Vor dem Überqueren der Straße schaut der Jogger nicht merklich nach links und rechts. Es sind kaum Autos unterwegs. Anstatt des üblichen Verkehrslärms dringt Vogelgezwitscher ans Ohr.

Das ist nicht mehr Pariser Alltag, was sich dem Auge bietet. Das ist etwas verstörend anderes. Ein Ausnahmezustand, der weit über den hinausgeht, den Staatschef François Hollande nach den schwersten Terroranschlägen in der französischen Geschichte über das Land verhängt hat. Möglichst schnell möglichst viele Menschen umbringen, das war das Ziel der offenbar vom Islamischen Staat aus der Ferne gesteuerten Angreifer. War es bei den Anschlägen auf die Redaktionsräume des Satireblattes „Charlie Hebdo“ oder einen jüdischen Supermarkt Anfang des Jahres noch darum gegangen, bestimmte Zielgruppen zu terrorisieren nämlich Journalisten und Juden, stand diesmal schlicht Massenmord auf der Agenda. Das verstört nicht nur, das macht vor allem auch Angst. Der Aufruf der Pariser Präfektur, nur in dringenden Fällen das Haus zu verlassen, mag berechtigt gewesen sein. Noch ist nicht auszuschließen, dass sämtliche Terroristen den Märtyrertod der rettenden Flucht vorgezogen haben. Aber der Appell, zu Hause zu bleiben, schürt die Angst zusätzlich.

Viele schweben immer noch in Lebensgefahr

Schaudern lassen dazuhin die immer wieder nach oben korrigierten Opferzahlen: 129 Tote sind zu beklagen, in Pariser Kliniken werden mehr als 350 Verletzte behandelt, 99 von ihnen schweben in Lebensgefahr, meldet soeben der Fernsehsender i-Tele. Ein Zwischenstand ist das, mehr nicht.  Vor dem Bataclan legen Passanten Blumen nieder. Bald schon säumt ein Spalier von Sträußen den Eingang. Der Pianist Davide Martello rollt ein Klavier über den Gehweg, intoniert „Imagine“ von John Lennon, „um den Opfern die letzte Ehre zu erweisen“, wie der Pianist sagt. Eine Frau tritt hinzu, erkundigt sich nach dem Krankenhaus La Pitié Salpétrière. Sie will Blut spenden für die Opfer. Es hätte jeden treffen können, mich auch, sagt sie. Menschen haken sich unter, stimmen die Marseillaise an, die so optimistisch vorwärts drängende französische Nationalhymne, machen sich auf den Weg Richtung Place de la République.

Bis auf weiteres sind sämtliche Kundgebungen verboten, aber diese spontane ist erlaubt. Unter den Augen der Polizisten findet sie statt. „Wir dürfen uns nicht unterkriegen lassen“, ist die Devise. In der Nacht zum Sonntag finden sich immer mehr Menschen auf der Place de la République ein. Ein wenig erinnert die Zusammenkunft an die Kundgebungen nach dem Terrorüberfall auf die Redaktionsräume von „Charlie Hebdo“ und einen jüdischen Supermarkt. Aber anders als bei den Solidaritätsdemonstrationen Anfang Januar fehlt das die Menge einigende Band. Damals galt der Aufmarsch der Verteidigung der Meinungsfreiheit, der Pressefreiheit, der in der französischen Verfassung verankerten Laizität. Aber wogegen soll man diesmal aufbegehren? Gegen fanatische Verblendung, gegen blindes Morden, gegen Massaker?  Das versteht sich doch von selbst, das taugt nicht zum Slogan. Und so sind es diesmal Trauer, ja Resignation, die aus den Mienen sprechen, nicht Trotz und Resistance.

Im Fernsehen macht Innenminister Bernard Cazeneuve seinen Landsleuten Mut und ruft zu nationaler Einheit auf. Die Geheimdienste seien samt und sonders mobilisiert, sagt der Minister. Dass sie es auch schon vor den Anschlägen waren, sagt er nicht. Außenminister Laurent Fabius kündigt einen verstärkten Schutz der französischen Einrichtungen im Ausland an. Und alle sprechen sie von Krieg, Staatschef François Hollande, Premierminister Manuel Valls und der rechtsbürgerliche Oppositionsführer Nicolas Sarkozy. Valls spricht aus, was alle wünschen: „Wir werden den hinter den Anschlägen steckenden Islamischen Staat vernichten“, sagt der Premier. Dass er dies nicht erst seit Freitagabend anstrebt, sagt er nicht.

Hollande zeigt sich geschockt

Hollande war unter dem Eindruck der Attentate sogar noch weiter gegangen. Sichtlich unter Schock stehend, hatte der Staatschef mit belegter Stimme versichert, dass er die Grenzen dicht machen und keine weiteren Anschläge zulassen werde. Wunschdenken war das gewesen in der Stunde der Not. Denn natürlich sind die Grenzen Frankreichs nicht komplett abzuriegeln. Allenfalls die Kontrollen lassen sich verschärfen, was am Samstag dann auch passiert ist. Und dass sich Terroranschläge in Frankreich nicht verhindern lassen, hat das trotz erweiterter Geheimdienstbefugnisse und höchster Alarmstufe für die Sicherheitskräfte nicht vereitelte Morden aufs Brutalste illustriert.

Jetzt gilt Staatstrauer

Vor einer Amtsstube werden Trikolore und europäisches Sternenbanner eingerollt. Bis Dienstag soll Staatstrauer herrschen. Am Sonntagabend wurde ein „Requiem der Einheit“ in der Kathedrale Notre-Dame gefeiert. Land und Stadt befänden sich seit mehr als 48 Stunden in einer Ausnahmesituation, sagte der Pariser Kardinal Andre Vingt-Trois im Beisein zahlreicher hoher Politiker. Jetzt gehe es auch darum, für die Verletzten zu beten und das Leid der Angehörigen zu teilen. „Für unsere Stadt, für unser Land ist es bei so einer schweren Tat wichtig, Solidarität zu entwickeln.“

An diesem Montagmittag folgt eine landesweite Schweigeminute. Um 16 Uhr wird Hollande vor beiden Kammern des Parlaments eine Erklärung abgeben. Und danach? Zu der von der Regierung verheißenen Gegenwehr gehört auch, sich von den Terroristen nicht die Agenda diktieren zu lassen. Zwar verlängerte Hollande den Ausnahmezustand um drei Monate. Doch die in zwei Wochen beginnende Weltklimakonferenz, zu deren Auftakt 107 Staats- und Regierungschefs erwartet werden, sowie die Regionalwahlen am 6. und 13. Dezember – alles soll stattfinden wie geplant.

So sehr Spitzenpolitiker aller Lager auch beteuern, in der schweren Stunde zusammenzuhalten – der Wahlkampf ruht keineswegs. Am Sonntag früh verkündet die Chefin des Front National, was sie „für eine Pflicht gegenüber dem Bürger“ hält: „Die Franzosen sind nicht mehr sicher.“ Mit ihr als Präsidentin, so lässt die Rechtspopulistin durchblicken, wäre das nicht passiert. Auch in den Reihen der rechtsbürgerlichen Republikaner erliegen die ersten Politiker der Versuchung, aus der Verängstigung Kapital zu schlagen, wenn auch in verhaltenem Ton. Von unzureichenden Sicherheitsvorkehrungen ist die Rede. Es wird nicht lange dauern, bis dieser Mangel den regierenden Sozialisten angekreidet wird. „Wir wissen, wer diese Verbrecher, wer diese Terroristen sind“, hat Staatschef Hollande auch gesagt.

An die Öffentlichkeit gedrungen sind zunächst nur Bruchstücke dieses Wissens. Als wahrscheinlich gilt, dass die in Syrien und im Irak französischen Luftangriffen ausgesetzte Terrormiliz Islamischer Staat (IS) die Anschläge aus der Ferne gesteuert hat. Doch die konkreten Zusammenhänge sind ungeklärt. Selbst die Identifizierung ist extrem mühsam. Die Körper der meisten Selbstmordattentäter seien nach der Explosion ihrer Sprengstoffgürtel so verstümmelt gewesen, dass man sich mit Fleischentnahmen habe begnügen müssen, erzählt ein Gerichtsmediziner.

Wie verunsichert die Pariser sind, zeigte sich am Sonntagabend, als Gerüchte über Schüsse auf dem Platz der Republik, wo sich zahlreiche Menschen in Trauer versammelt hatten, Panik ausbrach. Polizisten eilten mit gezückten Waffen herbei und räumten den Platz. Auslöser der Unruhe waren Feuerwerkskörper. Die Menge, die sich um die Bronzestatue versammelt hatte, um Blumen niederzulegen und Kerzen anzuzünden, löste sich rasch auf. Auch im benachbarten Viertel Marais kam es zu Panikaktionen. All dies zeigt: die Nerven liegen blank. In Frankreich herrscht eben auch im Seelischen der Ausnahmezustand.