Die Paulinenpflege Winnenden hat den Lehrberuf Fachinformatiker neu im Angebot. Zum Zug kommen junge Leute aus dem ganzen Land, die in einem regulären Betrieb keine oder kaum eine Chancen haben.

Rems-Murr/ Ludwigsburg: Martin Tschepe (art)

Winnenden - Stephan Boschert sagt von sich selbst, er habe manchmal „einen kurzen Geduldsfaden“. Er grinst verschmitzt, schweigt ein paar Sekunden und erzählt dann, dass er mitunter seine Stifte auf dem Schreibtisch akkurat sortiere. „Das passiert unbewusst, ohne dass ich es merke.“ Und die leeren Patronen seines Füllfederhalters, die lege er oft zu geometrischen Formen zusammen. Fachleute nennen Menschen wie Stephan Boschert Autisten. Der junge Mann aus dem badischen Achern macht seit September bei der Paulinenpflege in Winnenden eine Ausbildung als Fachinformatiker, während dieser Zeit wohnt er im Internat der diakonischen Einrichtung.

 

EDV-Berufe seien gut für Autisten geeignet, sagt Dietrich Hub. Er ist Lehrer und Referent für Öffentlichkeitsarbeit bei der Paulinenpflege. „Liebe zum Detail und ausdauernde Konzentration auf ein eng umgrenztes Gebiet – diese für den Beruf wichtigen Aspekte sind bei Autisten oft gut ausgeprägt.“ Viele dieser Menschen hätten aber Schwierigkeiten im sozialen Interagieren, konkret: in der Zusammenarbeit mit Kollegen, Kunden und Vorgesetzten, sagt Hub. Dies spiele bei Computerarbeiten eine weniger wichtige Rolle, „weil das Gegenüber eine EDV-Anlage ist“. Um auf die speziellen Bedürfnisse der autistischen Lehrlinge einzugehen, bietet das Berufsbildungswerk (BBW) der Paulinenpflege deshalb ein spezielles soziales Kompetenztraining an, damit die jungen Leute später in einem „normalen“ Betrieb weniger Schwierigkeiten hätten.

„Hier bin ich richtig“

In der Berufsschulklasse sind außer Stephan Boschert zurzeit nur vier weitere Azubis. Die Ausbildung wird von der Arbeitsagentur gefördert. Nicht alle in der Klasse sind Autisten, aber alle hatten nach ihrem erfolgreichen Schulabschluss bis dato keine Lehrstelle gefunden. Stephan Boschert erzählt, dass er 2012 Abitur gemacht hat, mit den Schwerpunktfächern Physik und Chemie. Er habe eine Lehre im Metallbau angefangen, diese aber bald wieder abgebrochen. Der Meister seines ehemaligen Lehrbetriebs habe gesagt, er solle doch „einen Beruf mit Computern“ ergreifen. Das, sagt Stephan Boschert im Rückblick, sei durchaus „ein guter Ratschlag“ gewesen. Schließlich habe ihn die Arbeitsagentur auf den neuen Ausbildungsberuf bei der Paulinenpflege in der Nähe von Stuttgart hingewiesen, so Boschert. Also sei er nach Württemberg gezogen.

Mit ihm in der Klasse lernt ein 18-Jähriger, der von ein paar Dutzend erfolglosen Bewerbungen berichtet. Ein anderer Azubi erzählt von einem abgebrochenen Informatikstudium und sagt: „Das Umfeld war nichts für mich.“ Die Freiheit des Studiums mit ungezählten Kommilitonen sei ihm nicht so gut bekommen. Und ein dritter, der ebenfalls schon einiges ausprobiert hat, sagt nach knapp vier Monaten in Winnenden: „Hier bin ich richtig.“

Überwachungs-Webkamera konfiguriert und installiert

Mit ihrem Lehrer Thomas Eggebrecht und dem Ausbilder Ralf Lange haben die angehenden Fachinformatiker bereits einen ersten Praxistest erfolgreich absolviert. Für eine Besenwirtschaft wurde eine Überwachungs-Webkamera konfiguriert und installiert. Die Lehrlinge der Paulinenpflege hoffen, dass sie nach der Ausbildung auf dem ersten Arbeitsmarkt unterkommen. Informatiker sind schließlich gefragt.

Und mittlerweile hat sich zumindest in manchen Unternehmen herumgesprochen, dass viele Autisten ganz spezielle Fähigkeiten haben, die Softwaretester und Programmierer benötigen: Detailverliebtheit, Akribie, ein hervorragendes Gedächtnis, logisches Denken – Eigenschaften, die mitunter als krankhaft gedeutet werden, die aber perfekt passen für manch knifflige Aufgabe. Der Softwarekonzern SAP hat im Frühjahr 2013 angekündigt, dass in den nächsten Jahren mehrere hundert Autisten eingestellt werden sollen. Und der Mobilfunkanbieter Vodafone hat ganz gezielt Autisten gesucht und unter Vertrag genommen – auch, weil diese neuen Kollegen Probleme so direkt ansprechen wie kaum ein anderer Mitarbeiter im Unternehmen.

Ersten Ausbildungsjahr in der Lehrwerkstatt

Stephan Boschert und seine Mitschüler, die im ersten Ausbildungsjahr in der Lehrwerkstatt der Paulinenpflege arbeiten, hoffen, dass sie 2015 als Praktikanten in der freien Wirtschaft unterkommen und nach dem Abschluss dann einen festen Job finden. Wer weiß, vielleicht bei einem Branchenriesen wie SAP in Walldorf.

Kommentar von Martin Tschepe

Wer spezielle Einrichtungen für behinderte Menschen besucht, zum Beispiel die Paulinenpflege in Winnenden, der kann unmöglich zu einer Empfehlung kommen, die zurzeit sehr populär ist, die gut klingt und ankommt beim Publikum: Inklusion für alle. Es gibt Experten, praxisferne Professoren in der Mehrzahl, die allen Ernstes behaupten, alle behinderten Kinder sollten ohne Ausnahme gemeinsam unterrichtet werden mit der Masse. Und alle behinderten Menschen sollten gemeinsam mit Gleichaltrigen eine Ausbildung machen. Das hört sich in der Theorie toll an. In der Praxis ist so ein Ansatz aber oft zum Scheitern verurteilt. Manch traumtanzender Fachmann mag vielleicht einwenden: „Um so schlimmer für die Realität, wenn diese nicht mit meiner tollen Theorie übereinstimmt.“

Die Paulinenpflege hat seit diesem Lehrjahr den Ausbildungsberuf Fachinformatiker im „Sonder“-Angebot – speziell für Autisten und Menschen mit ähnlichen Einschränkungen oder Behinderungen. Ohne diese gezielte Spezialförderung kämen diese Menschen kaum zu einem Abschluss. Die gesonderte Beschulung – beispielsweise von Autisten und gehörlosen Kindern – ist für viele der Betroffenen die Eintrittskarte in ein sogenanntes normales Berufsleben. Abgänger der Berufsschule der Paulinenpflege finden Jobs auf dem ersten Arbeitsmarkt. Wenn man will, kann man das dann Inklusion nennen. Noch vor ein paar Jahren wurde meistens von Integration gesprochen. Im Grunde ist die Terminologie aber zweitrangig. Die Theorie und die Praxis sollten halt möglichst weitgehend übereinstimmen. In der Paulinenpflege Winnenden ist das der Fall.

Im Jahr 1823 gegründet

Paulinenpflege
Die Paulinenpflege ist 1823 in Winnenden von dem Pfarrer Friedrich Jakob Heim gegründet worden. Zunächst hat sich die Einrichtung um bedürftige Kinder gekümmert. Unter den ersten Schützlingen war auch ein gehörloses Kind. Die Paulinenpflege hat sich zu einer Spezialeinrichtung für gehörlose und hörbehinderte Menschen entwickelt. Heute sind rund 1200 Mitarbeiter beschäftigt.

Autisten
Seit etwa zehn Jahren macht die Paulinenpflege auch spezielle Angebote für Autisten, es gibt zum Beispiel Schulklassen.