Peer Steinbrück hat am Montagabend auf dem Marktplatz in Esslingen einen seiner zwei Wahlkampfauftritte in Baden-Württemberg absolviert. Er präsentiert sich rund 90 Minuten auf der Rundbühne als ein Mann mit Visionen, der gerne auch mal aneckt.

Entscheider/Institutionen : Kai Holoch (hol)

Esslingen - Im Leben ist alles relativ. Als vor wenigen Wochen der Spitzenkandidat der Grünen, Jürgen Trittin, auf dem Esslinger Marktplatz gesprochen hat, verloren sich rund 200 Zuhörer auf dem großen Gelände. Könnte man also vom Publikumsinteresse auf das Wahlergebnis bei der Bundestagswahl in 26 Tagen schließen, dann müsste die SPD einen haushohen Sieg davontragen.

 

Denn nach Angaben der Esslinger Polizei haben sich am Montag immerhin 2500 Menschen auf dem Marktplatz versammelt, um einen der lediglich zwei Wahlkampfauftritte des SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück in Baden-Württemberg zu erleben. Andererseits: als Gerhard Schröder im Wahlkampf des Jahres 2005 in Esslingen Station gemacht hatte, wollten 10 000 Menschen den damaligen Kanzler sehen. Aber dank Pizza-Theke, Eis-Slush-Verkaufsbude der Jungsozialisten und anderer Stände ist das Areal gut gefüllt, als Steinbrück gestern um kurz nach halb sechs auf die kleine Rundbühne inmitten eines großen Rundzelts steigt.

Angela Merkel hat sich „lange hinter einer Fichte versteckt“

Bürgernähe soll diese neue Form des Auftritts signalisieren, ein Gespräch „auf Augenhöhe“ ermöglichen. Wenn man bedenkt, dass schon etliche Größen der Rockmusik an der Rundbühne gescheitert sind, nutzt Steinbrück die Möglichkeiten der Arena vergleichsweise wirkungsvoll. Immer wieder dreht er seine Runden und wirkt dabei wie ein Tiger, der um seine Beute schleicht.

Wen er genüsslich verspeisen will, das wird schnell klar. Deutliche Worte findet er für die seiner Meinung nach „tatenloseste, zerstrittenste, aber vollmundigste Bundesregierung seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland“. Bundeskanzlerin Angela Merkel habe sich lange genug im Kreisverkehr bewegt und sich notfalls „hinter einer Fichte versteckt“. Jetzt sei es Zeit, dass das Land nicht länger verwaltet, sondern wieder gestaltet werde.

Deutschland brauche einen Bundeskanzler mit Visionen, wobei für Steinbrück außer Frage steht, wer das ist. Als wichtige Themen nennt er den flächendeckenden Mindestarbeitslohn, eine umfassende Rentenreform und die Schaffung von 120 000 Stellen im Pflegebereich. Wolle man Menschen motivieren, diesen Beruf zu ergreifen, müsse man die Arbeitsbedingungen verbessern und die Menschen besser bezahlen.

Steinbrück positioniert sich pro S21

Die ersten 60 Minuten seines rund eineinhalbstündigen Auftritts beantwortet Steinbrück Fragen, die zuvor im Publikum gesammelt wurden. Auch auf spontane Zwischenrufe reagiert er. Seine Haltung zu Stuttgart 21 stößt bei den Gegnern des Großprojekts auf wenig Gegenliebe. Zwar habe sich die Bahn „da wohl sauber verkalkuliert“ und in Zukunft müssten die Bürger viel früher beteiligt werden, aber grundsätzlich befürwortet der Kanzlerkandidat das Projekt: „Sie dürfen nicht vergessen: Ein 80-Millionen-Volk braucht auch noch ein bisschen Verkehrsinfrastruktur.“

Steinbrück gefällt es sichtlich, gelegentlich anzuecken. Kein Verständnis hat er für Menschen, die die Energiewende wollten, aber die dafür notwendigen Stromleitungen ablehnen. Überhaupt müssten die Deutschen zu einer stärkeren Gemeinwohlorientierung zurückkehren.