Petar Segrt pendelt als afghanischer Nationalcoach zwischen seiner Heimat Calw und Kabul. Ein ungewöhnliches Experiment, das bald zu Ende sein könnte.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Peter Stolterfoht (sto)

Calw - W

 

enn Petar Segrt mal wieder zu Hause in Calw ist, hat er eine feste Anlaufstelle. Die Kimmichstub’n im Gewerbegebiet – erste Querstraße links, wenn man die B 295 aus Althengstett runterkommt. Das rustikale Restaurant mit Kegelbahnen ist so etwas wie der gastwirtschaftliche Heimathafen für den weit gereisten Petar Segrt, den es mit seinen kroatischen Eltern als Vierjährigen aus dem damaligen Jugoslawien an den Schwarzwaldrand verschlagen hatte. Seitdem bedeutet die Kimmichstub’n für ihn: entspannen, Schnitzel essen, Freunde treffen. Oder diesmal einen Journalisten, den er hier zu einem ganz persönlichen Heimspiel empfängt.

Die Wirtin der Kimmichstub’n, die mit Petar Segrt zur Schule gegangen ist, schaut auf die Uhr. Kurz vor drei. „Er ist pünktlich, gleich schwebt er ein“, sagt sie. Und schon geht die Tür auf, und herein kommt ein Mann, der aussieht wie der junge Dragoslav Stepanovic. Dessen „Lebbe geht weiter“ ist neben Giovanni Trapattonis „Flasche leer“ vermutlich der am meisten überstrapazierte deutsche Trainerspruch. Das Leben geht weiter, eine Selbstverständlichkeit im Fußballgeschäft.

Nicht für Petar Segrt. Der 50-Jährige hat den gefährlichsten Trainerjob der Welt. Er ist seit einem Jahr Nationalcoach Afghanistans. Und dafür war er – anders als seine Vorgänger, die die Arbeit von Europa aus gemacht haben – zuletzt immer rund zehn Tage im Monat in der afghanischen Hauptstadt Kabul. „Ich habe mich natürlich auch schon gefragt, ob ich wieder lebend zurückkehre“, sagt Petar Segrt, der einen gerne nach Afghanistan eingeladen hätte. „Das geht aber nicht, weil ich nicht für die Sicherheit meiner Gäste garantieren kann.“ Er ist ja selbst nicht sicher. Auch wenn ihn in Kabul zwei Bodyguards auf Schritt und Tritt begleiten. „Gegen ein Bombenattentat bist du machtlos“, sagt Petar Segrt, der vermutet, dass er ziemlich weit oben auf der Anschlagsliste der Taliban und den Terroristen des Islamischen Staats steht.

Training in Katar, Heimspiele in Iran

Mehrmals ist er mit der Nationalmannschaft einem Terrorakt entgangen, im Januar war es ganz knapp, als ein mit Sprengstoff beladenes Auto dem Teambus hinterhergefahren war und gerade noch rechtzeitig von Sicherheitskräften aufgehalten werden konnte. „Wir sind zu einer Zielscheibe für Terroristen geworden, weil das Team eine unglaubliche Popularität besitzt“, sagt Petar Segrt, der die Mannschaft danach nicht mehr in Kabul zusammenkommen ließ. „Ich habe in Afghanistan gelernt, mich nicht von der Ruhe täuschen zu lassen. Es kann jederzeit etwas passieren. Man entwickelt hier einen Instinkt für die Gefahr“, sagt der Coach.

Das Training wurde nach Katar verlegt, die Heimspiele finden in Teheran statt. Im Iran leben fünf Millionen zumeist geflüchtete Afghanen. „Unsere Partien sind ausverkauft, die Begeisterung für einen Europäer nur schwer vorstellbar“, erzählt Segrt.

Das Ghazi-Stadion in Kabul wäre für ihn ohnehin kein Thema als Spiel- oder Trainingsstätte gewesen: Hier gab es während der Taliban-Herrschaft zwar Fußballspiele, aber in der Halbzeit auch Hinrichtungen. Segrts Arbeitsplatz blieb das Verbandsgelände in Kabul, wo er auch mit afghanischen Talenten trainiert hat. Die Mehrheit seiner Spieler lebt allerdings nicht in der Heimat. Sie spielen in der zweiten schwedischen, niederländischen, norwegischen oder dritten deutschen Liga, so wie Milad Salem von Holstein Kiel. Auch Nadiem Amiri hat afghanische Wurzeln. Der Hoffenheimer hat sich aber noch nicht endgültig auf das Nationalteam festgelegt, weil auch die DFB-Auswahl eine Option für ihn ist.

„Afghanen sind unglaublich stolz. Sie gehen zum Beispiel ganz aufrecht durch die Straßen, selbst wenn gerade eine Bombe in der Nähe detoniert ist und man doch eigentlich gebückt wegrennen müsste“, sagt Petar Segrt. Er führt seinen Pakol vor, die traditionelle afghanische Kopfbedeckung, die sich am besten als Basken-Wollmütze beschreiben lässt. „Ich kenne nichts, was im Winter besser wärmt“, sagt er, „einmalig.“

Segrt wird in Afghanistan verehrt. Seine Spieler sind dort mittlerweile größere Stars als die Cricket-Asse. Nicht nur, weil sie sportlich so erfolgreich sind wie nie und die Qualifikation für den Asien-Cup in greifbare Nähe gerückt ist. Sie leben in diesem wackligen Staatsgebilde, das sich seit bald 40 Jahren nonstop im Bürgerkrieg befindet, auch ein selten friedliches Miteinander vor. Politik hat Petar Segrt innerhalb der Mannschaft zum Tabu erklärt. Gegessen wird nicht mehr nach Stammeszugehörigkeit in vielen verschiedenen Gruppen, sondern gemeinsam an einem großen Tisch.

Das Experiment des „Man of Hope“

In Afghanistan wird Petar Segrt „Man of Hope“ genannt und sein Nationalteam „das Experiment“. Zusammen stehen sie für etwas, das die Afghanen so nicht kennen: Teamgeist. Die Menschen sollen sehen, dass sich hier einer mal nicht von Einzelinteressen leiten lässt, sondern immer das große Ganze im Blick behält. Das Motto von Petar Segrt wollten die afghanischen Fußballfunktionäre allerdings nicht ganz so schnell beherzigen. Deshalb ist im Moment noch gar nicht geklärt, ob er überhaupt Nationaltrainer bleibt.

Vor dem letzten Spiel ist es nämlich zum Eklat gekommen, weil die Verbandsoberen ihren Trainer dazu verpflichten wollten, den Lieblingskicker des Fußball-Präsidenten zur Partie nach Tadschikistan mitzunehmen. Dieser Spieler wurde von Petar Segrt zuvor nicht mehr berufen. „Er hatte öffentlich schlecht über Mannschaftskollegen gesprochen und war auch fußballerisch keine große Hilfe“, nennt Segrt die Gründe für die Nichtberücksichtigung. Als die Mannschaft am 9. November zum Spiel aufbrechen wollte, wurde ebenjener Spieler ohne Segrts Wissen in den Bus geschmuggelt. Der Trainer wurde mit einem Vorwand in seinem Büro aufgehalten. Am Ende fuhr der Bus ohne Petar Segrt ab und mit dem Spieler, den er nicht dabei haben wollte. Segrt flog zurück nach Deutschland und sitzt jetzt in der Calwer Kimmichstub’n.

„Wegen mir ist jetzt ganz schön was los in Afghanistan“, sagt er, nachdem das Spiel in Tadschikistan ohne den Trainer 0:1 verloren gegangen ist. „Die Fans und meine Spieler protestieren und setzen den Verband unter Druck, mich zurückzuholen.“ Sogar Afghanistans Präsident Aschraf Ghani soll als Vermittler eingeschaltet werden. „Ich bekomme ständig Anrufe und Nachrichten aus Afghanistan, ich weiß aber noch nicht, was ich mache. Das Vertrauensverhältnis ist zerstört. Auch wenn jetzt im Verband allen klar sein dürfte, dass ein großer Fehler gemacht wurde.“ Das Kapitel Afghanistan könnte damit für Petar Segrt nach einem Jahr beendet sein. Aber wie hat es überhaupt angefangen?

Der ungewöhnliche Schritt nach Afghanistan passt zur ungewöhnlichen Karriere des selbstbewussten wie eloquenten Petar Segrt. Was zunächst als klassische Amateurfußballer-Laufbahn mit den Stationen FV Calw, FV Plochingen, TSV Schwaikheim, SV Allmersbach, FC Walldorf und Waldhof Mannheim II beginnt, entwickelt sich für Segrt im Trainerbereich dann deutlich untypischer. Petar Segrt lässt sich mit prominenten Kollegen wie Christian Streich, Mirko Slomka und Michael Frontzeck zum Fußballlehrer ausbilden. Er wird dann der Reihe nach Bundesliga-Co-Trainer in Bochum, Duisburg und bei Waldhof Mannheim. Danach verliert sich seine Spur für deutsche Beobachter langsam: Nach seinem Wechsel nach Österreich arbeitet er als Erstliga-Cheftrainer des SV Ried oder beim Wiener SK – dennoch wird er nicht mehr so richtig vom deutschen Fernsehfußball-Radar erfasst.

In Georgien Krisenerfahrung gesammelt

Bei Insidern besitzt Petar Segrt einen guten Ruf. Georgiens damaliger Nationaltrainer Klaus Toppmöller holt ihn 2006 in seinen Stab. Segrt trainiert zunächst die U-21-Mannschaft, wird dann Toppmöllers Co-Trainer und übernimmt zwischenzeitlich dessen Position. In Georgien erlebt er auch den Kaukasuskrieg und den russischen Einmarsch. Danach rückt er etwas stärker in den deutschen Fokus, weil er als deutscher U-21-Trainer gehandelt wird. Segrt landet aber in der indonesischen, danach in der bosnischen Liga.

„Und dann kam die Anfrage des afghanischen Verbands“, erzählt Petar Segrt, „auch, weil ich als krisenfest gelte.“ Trotzdem steht für ihn nach seiner Ankunft in Kabul und noch vor dem Verhandlungsgespräch seine Absage fest. „Überall Stacheldraht, Einschusslöcher in den Wänden, schwer bewaffnetes Militär, da willst du erst einmal nicht bleiben“, sagt er, um dann von einer Liebe auf den zweiten Blick zu erzählen. „Als mich aber Kinder mit Blumen begrüßten, manche von ihnen nur mit einem Schuh an den Füßen, und ‚Willkommen Trainer‘ sagten, konnte ich nicht gleich Nein sagen.“ Er braucht Bedenkzeit.

Als ihm zu Hause fast alle von diesem Job abraten, denkt er sich: „Und jetzt erst recht.“ Nur ein guter Bekannter aus gemeinsamen österreichischen Zeiten äußert sich nicht so eindeutig: „Schwierig. Dein Gefühl muss entscheiden“, sagt der Bundestrainer Joachim Löw. Das Gefühl von Petar Segrt – der familiär ungebunden ist, keine Kinder hat – sagt Ja zu Afghanistan. Auch weil er hier die Möglichkeit bekommt, das zu tun, was ihn reizt: helfen, Mut machen, etwas aufbauen, Begeisterung entfachen, Menschen ihre Not vergessen lassen, eine völlig andere Kultur kennenlernen. „Das Geld hat überhaupt keine Rolle gespielt“, sagt er.

Nach Afghanistan wird er bestimmt zurückkehren, selbst wenn er nicht mehr Nationaltrainer sein sollte. „Die Menschen dort sind etwas ganz Besonderes, sie haben sich ihre Würde vom Krieg und vom Terror nicht nehmen lassen.“ Und dann erzählt er noch von einem befreundeten afghanischen Kameramann, dessen Bruder und einige TV-Kollegen gerade erst bei einem Selbstmordanschlag ums Leben gekommen sind. „Er hat mir gesagt“, erzählt Petar Segrt, „dass er genug geweint habe und nur noch in die Zukunft schaue.“ Zum Schluss sagt er: „Afghanistan ist sehnsuchtsvoll, faszinierend, wild, unzähmbar.“

In der Kimmichstub’n läuft mittlerweile der Fernseher: Bundesliga, die Wiederholung Wolfsburg gegen Schalke. In diesem Moment erscheint der deutsche Fußball ganz weit weg.