Technische Einblicke in den Körper werden modisch: Die Beauty-Endoskope kommen - und zeigen alles, was sich in Mund, Nase oder Ohren des Anwenders so tut. Diese rätselhaft tiefgehende Lust, sich zu entblößen, ist schon erstaunlich.

Stuttgart - Hier geht es in Zukunft um die Zukunft. Das StZ-Hausorakel Peter Glaser befragt einmal die Woche die Kristallkugel nach dem, was morgen oder übermorgen sein wird – und manchmal auch nach der Zukunft von gestern. Dazu als Bonus: der Tweet der Woche!

 

Die Technik ist erstaunlich alt. Schon 1860 machte der Hals-, Nasen- und Ohrenarzt Johann Nepomuk Czernak in Paris fotografische Aufnahmen von seinem Schlund. 1926 präsentierten die Wiener Ärzte Porges und Heilpern eine kleine, verschluckbare Schlauchkamera, die im Körperinneren 16 Fotos schießen konnte. Das Ganze blieb allerdings vorerst ein exotisches beziehungsweise nicht besonders beliebtes Verfahren der Selbstwahrnehmung. Wie immer waren es Künstler, die sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten vorgestastet haben in das, was heute profan und wellnessgängig wird - oder es zumindest werden soll.

1992 schuf der australische Hightech-Performancekünstler Stelarc anläßlich der Australian Sculpture Triennale in Melbourne eine sogenannte Stomach Sculpture - eine Kapsel, die in seinem Magen untergebracht wurde und die Licht und Töne aussandte. Der Magen war der Ausstellungsraum, die Kapsel das Kunstwerk. Klänge und Lichtpulse wurden über ein Endoskop sichtbar und hörbar gemacht.

Die neue Liebesunordnung

„Was kann man noch mehr zeigen?”, hatten sich angesichts der immer näher heranrückenden Kameraaugen des pornografischen Films die französischen Philosophen Pascal Bruckner und Alain Finkielkraut 1977 in ihren Buch „Die neue Liebesunordnung” gefragt. 1993 fand ein englisches Paar darauf die Antwort: Innenaufnahmen der Ejakulation des Mannes und der weitere Weg der Spermien im Körper einer Frau, beobachtet mit Hilfe einer winzigen Endo-Kamera. Über drei Wochen ließen die beiden menschlichen Versuchskaninchen ihr Liebesspiel akribisch im Dienste der Wissenschaft aufzeichnen. Die Aufnahmen wurden alsbald einer empörten, aber hochinteressierten britischen Fernsehöffentlichkeit vorgeführt.

1995 wurde die aus Beirut gebürtige britische Künstlerin Mona Hatoum für ihre Videoarbeit Corps Etranger („Fremder Körper”), einer endoskopischen Fahrt durch die Körperöffnungen der Avantgardistin, für den renommierten Turner-Preis nominiert. Die von Atemgeräusch eingeleitete Reise beginnt an der Körperoberfläche, wo man mit unwirklich vergrößerten Haaren, Zähnen und Pupillen konfrontiert wird. Dann geht es begleitet von Herzschlägen in das pulsierende Innere des menschlichen Körpers.

Im Morgenrot der Zudringlichkeitsindustrie

Nun möchte die vorwiegend medizinische Gerätschaft ein gewöhnlicher Haushaltsartikel werden. Dank der Miharu Intraoral Endoskopkamera („endlich auch für den Privatanwender“) lassen sich Live-Übertragungen aus dem Mund inzwischen problemlos auf den Bildschirm bringen. „Zahnbelag wird durch den Plaque-Modus sichtbar ... Supereinfache Bedienung. Nur ein Knopf zum Umschalten zwischen Plaque Modus und normalem Bild.“ Der Hersteller, die japanische Firma RF System lab, hat das passende Firmenmotto: „The nearest place to the future that we all dreamed of."

Auch in den Ohren läßt sich heute technisch hochwertig bohren. Für 329 Dollar verhilft einem das Beauty Video-Endoskop Ear Scope TVder Firma Coden dazu, dass einem Hören und Sehen nicht mehr undokumentiert vergeht: „Schauen Sie sich selbst in Ihre Ohren wenn Sie sie reinigen! ... Ear Scope TV kann genutzt werden im Ohr, zum Betrachten der Kopfhaut, in der Nase, von Mundhöhle und Zähnen oder im technischen/Hobbybereich." Das Set kommt „inklusive japanischer Lichtleiter-Ohrenstäbchen, einem japanischen Leucht-Ohrenlöffel und einem Extra-Spezial-Lichtleiter für andere Verwendungen im technischen Bereich.“ Bühne frei für den Gehörgang! – Schmalziges bleibt sozusagen auch im 21. Jahrhundert attraktiv.

Informatische Nacktheit

Nie war der Wunsch, zu sehen und gesehen zu werden so ausgeprägt und obsessiv wie in unserer Zeit. Diese rätselhaft tiefgehende Lust, sich zu entblößen, ist erstaunlich und angesichts technischer Tendenzen wie der beschriebenen endoskopischen Produkte müssen wir uns leise schaudernd fragen, was die Zukunft noch an Zudringlichkeiten bereithalten wird. Einstweilen frönen wir erst noch der informatischen Nacktheit - Stichwort schutzlose Nutzerdaten -, die ein bißchen daherkommt wie FKK. Alle packen aus, alles öffnet sich. Und so werden wir uns auch in der digitalen Öffentlichkeit zunehmend im Brandungsrauschen intimster Dinge bewegen.

Und hier noch wie immer der Tweet der Woche.