Im Jahr 1988 wurde der Schriftsteller Kurt Vonnegut gebeten, einen Brief an die Menschen in 100 Jahren zu verfassen. Schon ein Vierteljahrhundert später lohnt es sich, einen Blick auf seine deutlich formulierten Ratschläge zu werfen.

 

Stuttgart - Hier geht es in Zukunft um die Zukunft. Das StZ-Hausorakel Peter Glaser befragt einmal die Woche die Kristallkugel nach dem, was morgen oder übermorgen sein wird – und manchmal auch nach der Zukunft von gestern. Dazu als Bonus: der Tweet der Woche!

 

Diesmal wollen wir den Blick in die Zukunft und die Vergangenheit gleichermaßen richten. 1988 hatte die Firma VW in den USA als Teil einer Werbekampagne eine Reihe namhafter Denker angesprochen und sie gebeten, einen Brief an die Zukunft zu verfassen – ein paar Ratschläge für die Menschen im Jahr 2088, um genau zu sein. Einer, der sich damit einverstanden erklärte, war der Schriftsteller und Freidenker Kurt Vonnegut. Wir haben nun ein Viertel des Wegs in das Morgen zurückgelegt, an das Vonnegut sich damals wandte, und er ist es wert, wieder gelesen zu werden, auch vor der Zeit, an die er adressiert ist:

„Sehr geehrte Damen und Herren im Jahr 2088

Man hat mir gesagt, dass Sie vielleicht ein paar weise Worte aus der Vergangenheit willkommen heißen würden, und dass ein paar von uns aus dem zwanzigsten Jahrhundert ihnen welche senden sollen. Kennen Sie den Rat, den Polonius, der Berater des Königs, in Shakespeares Hamlet gibt: „Dieses vor allem: dir selber treu zu sein“? Oder was ist mit dieser Anweisung des Heiligen Johannes: „Fürchte Gott und gib ihm die Ehre, denn die Stunde seines Gerichts ist gekommen“? Der beste Rat aus meiner eigenen Zeit für Sie - oder für jeden zu jeder Zeit -, ist, glaube ich, ein Gebet, das als erste Alkoholiker in der Hoffnung gesprochen haben, nie wieder zu trinken: „Gott, gib mir Gelassenheit für die Dinge, die ich nicht ändern kann, Mut, um die Dinge zu ändern, die ich verändern kann und die Weisheit, den Unterschied dazwischen zu erkennen.“

Ich glaube, unser Jahrhundert war nicht so freizügig mit Ratschlägen wie andere, denn wir waren die ersten, die zuverlässige Informationen über die Situation des Menschen erhielten: wie viele es gibt, wie viel Nahrung wir produzieren und verarbeiten können, wie schnell wir uns reproduzieren, was uns krank macht, woran wir sterben, in welchem Ausmaß wir Luft, Wasser und Boden und die davon abhängigen Lebensformen schädigen, wie gewalttätig und herzlos die Natur sein kann, undsoweiter. Wer könnte sich mit Weisheit beschirmen, wenn so viele schlechte Nachrichten auf ihn herabregnen?

Die für mich niederschmetterndste Nachricht war, dass die Natur keine Naturschützerin ist. Sie braucht keine Hilfe von uns, um den Planeten auseinanderzunehmen und auf eine andere Weise wieder zusammenzusetzen, die sie aus der Sicht von Lebewesen aber nicht unbedingt verbessert. Sie zündet Wälder mit Blitzen an, ebnet große Flächen Ackerlandes mit Lava ein, auf der ebensowenig wächst wie auf Parkplätzen in der Großstadt. Sie hat in der Vergangenheit Gletscher ausgeschickt, die große Teile Asiens, Europas und Nordamerikas unter sich zermahlen haben, und es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass sie es nicht eines Tages wieder tun wird. Im Augenblick verwandelt sie afrikanische Bauernhöfe in Wüsten, und es ist zu erwarten, dass sie Flutwellen losläßt oder Schauer weißglühender Felsbrocken aus dem Weltraum auf uns niederschickt. Sie hat wunderbar entwickelte Spezies in funkelnden, aber versiegenden Ozeanen und auf überschwemmten Kontinenten ausgerottet. Wenn die Menschen denken, dass die Natur ihr Freund ist, brauchen sie mit Sicherheit keinen Feind mehr.

Ja, und wie Sie in hundert Jahren ganz genau wissen werden und ihre Enkel noch besser wissen werden: Die Natur ist rücksichtslos, wenn es um die Anpassung der Lebens-Quantität an die Quantität der zur Verfügung stehenden Nahrung geht. Also, was haben Sie und die Natur gegen die Überbevölkerung getan? Wir hier im Jahr 1988 sehen uns als eine neue Art von Gletscher - warmblütig und unaufhaltsam -, der alles verschlingt, der dann Liebe macht und sich immer weiter verdoppelt.

Wenn ich es mir recht überlege, bin ich nicht sicher, ob ich es ertragen könnte, mir anzuhören, was Sie und die Natur für die zu vielen Menschen mit zu wenig Lebensmittelversorgung getan haben.

Und hier ein verrückter Gedanke, den ich Ihnen zu denken geben möchte: Ist es möglich, dass wir mit H-Bomben-bestückten Raketen aufeinander zielen, bereit, jederzeit loszuschlagen, nur um uns von dem wesentlich größeren Problem abzulenken, nämlich wie grausam die Natur uns sehr wahrscheinlich behandeln wird, immer weiter und weiter, Natur bleibt Natur?

Da wir den Schlamassel, in dem wir stecken, nun mit wissenschaftlicher Genauigkeit debattieren können, hoffe ich, dass Sie damit aufgehört haben, abgrundtief ignorante Optimisten in Führungspositionen zu berufen. Die waren nur sinnvoll, so lange niemand eine Ahnung davon hatte, was wirklich los war – und zwar während der letzten sieben Millionen Jahre. Als Köpfe anspruchsvoller Institutionen, die echte Arbeit zu leisten haben, waren solche Leute zu meiner Zeit eine einzige Katastrophe.

Die Chefs, die wir jetzt brauchen, sind nicht diejenigen, die den endgültigen Sieg über die Natur versprechen, indem wir so weitermachen wie bisher, sondern diejenigen, die den Mut und die Intelligenz haben, der Welt klarzumachen, wie die strengen, aber vernünftigen Kapitulationsbedingungen der Natur für den Menschen lauten:

1. Reduziert und stabilisiert das Bevölkerungswachstum.

2. Hört auf, Luft, Wasser und Erde zu vergiften.

3. Hört auf, Kriegsvorbereitungen zu treffen und nehmt euch der wirklichen Probleme an.

4. Bringt euren Kindern - und wenn ihr gerade dabei seid, auch euch selbst - bei, wie man einen kleinen Planeten bewohnt, ohne dass man dabei mithilft, ihn zu killen.

5. Hört auf, darauf zu hoffen, dass Wissenschaftler alles reparieren können, wenn man ihnen nur eine Trillion Dollar gibt.

6. Hört auf, daran zu glauben, dass es euren Enkelkindern gutgehen wird, egal wieviel Müll und Zerstörung ihr hinterlaßt, da sie sich ja mit einem Raumschiff einen hübschen neuen Planeten suchen können. Das ist wirklich erbärmlich und schwachsinnig.

7. Und so weiter. Oder anders.

Bin ich zu pessimistisch, was das Leben in hundert Jahren angeht? Vielleicht habe ich zu viel Zeit mit Wissenschaftlern verbracht, und zu wenig mit Redenschreibern für Politiker. Soweit ich weiß, werden auch Obdachlose im Jahr 2088 ihren eigenen persönlichen Hubschrauber oder Raketengürtel haben. Niemand wird mehr das Haus verlassen müssen, um zur Arbeit oder zur Schule zu gehen, oder gar mit Fernsehen aufhören müssen. Alle werden den ganzen Tag herumsitzen und auf die Tasten der Computer-Terminals eindreschen, die mit allem, was es gibt, verbunden sind, und dabei Orangensaft durch Trinkhalme trinken, wie die Astronauten.

Cheers,

Kurt Vonnegut“

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Und hier noch, wie immer, der Tweet der Woche: