Der gezackte Rand der Welt: Briefmarkensammler sehen durch die digitalisierte Kommunikation einer düsteren Zukunft entgegen. Wer braucht im Zeitalter von E-Mail, SMS und Whatsapp noch Briefmarken?

Stuttgart - Hier geht es in Zukunft um die Zukunft. Das StZ-Hausorakel Peter Glaser befragt einmal die Woche die Kristallkugel nach dem, was morgen oder übermorgen sein wird – und manchmal auch nach der Zukunft von gestern. Dazu als Bonus: der Tweet der Woche!

 

In den sechziger Jahren begleitete das Briefmarkensammeln ganz selbstverständlich die verschiedenen Erscheinungsformen der zeitgemäßen Technikbegeisterung. Es gab Briefmarken mit dem Atomsymbol, den auf Ellipsen kreisenden Elektronen. Es gab kühle, abstrakte Motive, die den vorherrschenden Geist des aufstrebenden Ingenieurtums mit der Kunst verbanden. Und es gab Weltraumbriefmarken in solcher Menge, dass sie noch heute oft sackweise angeboten werden. Schon lange davor, noch in der Kaiserzeit, war das Briefmarkensammeln zu einer Wissenschaft geworden, der Philatelie (Der Philatelist ist, aus dem Griechischen übersetzt, der „Freund dessen, was frei von Abgaben ist“). Spezialisten und Enthusiasten begaben sich auf die Jagd nach Fehldrucken, Farb- und Papiervarianten, Fälschungen und nach kompletten Zusammenstellungen.

Als sich in den dreißiger Jahren, noch ehe Luftpost und Expresszustellung verbreitet waren, Pioniere wie der Grazer Ingenieur Friedrich Schmiedl und der deutsche Konstrukteur Gerhard Zucker der Entwicklung von Postraketen zuwandten, war die Briefmarke auch in den Anfängen der Raumfahrt bereits mit dabei (Noch immer ist Raketenpost bei Sammlern des betreffenden Spezialgebiets, der Aerophilatelie, sehr beliebt).

Unschuldige Opfer der digitalen Epoche

Inzwischen aber scheint das Begutachten und Sammeln der kleinen, gummierten Kunstwerke zu den unschuldigen Opfern unserer neuen digitalen Epoche zu gehören. Wer braucht im Zeitalter von E-Mail, SMS und Whatsapp noch Briefmarken? Zumal die Mühe, die man dem Produkt früher noch zugewandt hat, merklich nachgelassen hat. Die Motive werden anspruchsloser (obwohl es andererseits nun sogar die Möglichkeit gibt, sich individuell gestaltete Briefmarken anfertigen zu lassen), es gibt - ein Rückfall in die Briefmarkensteinzeit - wieder Marken mit zackenlos glattem Rand und auch die klassische Gummierung, die Marke und Markenbesitzer einander beim Anfeuchten nahebrachte, musste inzwischen einer praktischen, aber profanen Selbstklebefläche weichen.

Die Senioren unter den Sammlern beklagen den Mangel an Nachwuchs. Auch immer mehr Sammlungen, oft in Jahren und Jahrzehnten aufgebaut, werden vererbt und verkauft, überschwemmen den Markt und lassen die Werte verfallen. Lange vor Google Street View und den Millionen Augen, derer man sich auf Flickr zur Erkundung der Welt bedienen kann, gaben einem Briefmarken ein probates Mittel an die Hand, die Welt kennenzulernen – exotische, fremde Gegenden wie Britisch-Guayana oder San Marino und auch Reisen in Zeiten, in denen der Kaiser Franz Joseph oder Hitler nicht nur ihr Profil auf Briefmarken zeigten, sondern noch Gegenwart waren. Ein alter Briefumschlag mit einer solchen Marke, oder auch nur die Briefmarke allein, vermittelte manchmal in einem Augenblick mehr Nahgefühl für Geschichte als eine ganze Unterrichtsstunde.

Heute kann das Briefporto auch über andere Vertriebswege gekauft und bezahlt werden, etwa mit dem sogenannten Handyporto oder der Internetmarke. Insgesamt aber sieht es so aus, als könnte die Briefmarke ein ähnliches Schicksal ereilen wie schon zuvor die Cover-Kunst auf Langspielplatten und danach dasselbe nochmal in bereits verkleinerter Form bei den CDs. Die Digitalisierung lässt nur noch die Funktion bestehen. Alle Äußerlichkeit aber verschwindet.

=

 Und hier wieder, wie immer, der Tweet der Woche: