Ein Alterungsspezialist verwandelt Gegenwartsgegenstände in Relikte einer künftigen Vergangenheit.  

Stuttgart - Hier geht es in Zukunft um die Zukunft. Das StZ-Hausorakel Peter Glaser befragt einmal die Woche die Kristallkugel nach dem, was morgen oder übermorgen sein wird – und manchmal auch nach der Zukunft von gestern. Dazu als Bonus: der Tweet der Woche!

 

100 Years Later“ nennt der japanische Künstler Maico Akiba sein Projekt. Mit sorgfältig angewandten künstlichen Alterungsprozessen lässt er Rost, Moos, Schimmel und andere Spuren, die der Zahn der Zeit an Objekten hinterlässt, über Gadgets wie iPhones, Tastaturen, Computermäuse, Taschenrechner, Schuhe, Uhren, Handies oder Polaroid-Kameras wuchern. Sie werden zu Fundstücken einer entferntliegenden Zukunft. Zu Dingen, die Archäologen, Höhlen- oder Ruinenforscher in hundert Jahren entdecken oder ausgraben könnten. Die Idee ist bestechend. Wenn wir nicht in der Zeit nach vorne reisen können, lassen wir eben die Zeit in beschleunigter Form an den Dingen vergehen und holen uns so einen bemerkenswert realistischen und zugleich poetischen Eindruck der Zukunft ins Heute.

In Japan kennt man einen eigenen Begriff dafür, wenn Dinge gelebt haben und dadurch eine Art erfüllter Ästhetik annehmen: Wabi-sabi. Erst Gebrauchsspuren, Bewuchs, die Anpassung an die Welt lassen die Schönheit vollständig werden. Dieser Blick auf die Welt akzeptiert, dass alle Dinge unperfekt sind, dass sie nicht von Dauer sind und dass sie nicht stillstehen. Zu hoffen, dass Dinge in der Zukunft immer noch so sein mögen, wie sie heute sind, widerspricht dieser Anschauung.

Die weiche Hose und die Zukunft

Patina wird nicht als Zeichen von Abnutzung gesehen, sondern als ein Zeichen der Vervollkommnung. Um das zu verstehen, muss man kein Zen-Buddhist sein, sondern bloß eine Lieblingjeans haben: je bleicher und weicher die Hose wird, desto enger ist die Beziehung, die man zu ihr hat, bis sie schließlich kurz vor der Vollendung zerfällt. Nicht einmal die Firma Apple, die alles Neue kunstvoll und unter einem lackglänzenden und aluminiumschimmernden Anschein zelebriert, schafft es, diese eine, ganz besondere Qualität zu verkaufen, die aus einem Ding ein besonderes Ding machen kann: Zeit.

Neu ist ein Objekt nur für einen Augenblick. Die eigentliche Zeit, die wir mit ihm verbringen, ist die Zeit, in der ein Benutzer und seine Lebensweise spezielle Spuren an dem Ding hinterlassen. Eine digitale Maschine etwa, die man besitzt, ist nicht einfach ein unbeseeltes Objekt. Es ist ein unsichtbares Gefühlsgewächs, das zu sprießen beginnt, wenn wir es zum ersten Mal in die Hand nehmen. Ab da bewegt das Objekt sich mit uns durch die Zeit. Es wächst und reift (und kränkelt) mit uns Lebewesen zusammen in die Zukunft hinein.

Wo ist gestern, wo ist morgen?

Als die Expo 2000 in Hannover vor sich ging, war eine der beliebtesten Attraktionen eine Reise, die im Jahr 2100 begann und in der Gegenwart endete. In der zu einer riesigen Ausgrabungsstätte ungestalteten Halle 9 konnte man eine 11 Meter tiefe Grabung hinabwandern, wobei einen ein computeranimierter weiblicher Guide begleitete, der im Verlauf des Spaziergangs gegen den Zeitpfeil konsequenter Weise um 100 Jahre alterte.

Vor der Errichtung der Ausstellungsanlagen für die Weltausstellung fanden übrigens auf dem Südwesthang des hannoveraner Kronsbergs archäologische Untersuchungen des Baugrunds statt – man wusste, dass sich dort eine mittelalterliche Siedlung namens Eddingerode befunden hatte. Bei den anschließenden Ausgrabungen wurden die Reste von 43 Gebäuden, 20 Speichern und vier sogenannter Grubenhäuser gefunden. Die aus vergänglichen Materialien erstellten Gebäude haben kaum mehr Spuren hinterlassen.

Vor allem ist der Geist der Bewohner unwiederholbar in die Zeit verweht. Waren diese Hütten vielleicht an eine Zukunft gerichtete Zeichen? War die Zukunft damals überhaupt schon erfunden? Wer in den Achtziger- und Neunzigerjahren einen Homecomputer hatte und heute versucht, einer uralten Diskette aus der Garage noch verständliche Signale zu entnehmen (sofern er sich an die dafür nötigen Befehle noch erinnert), wird sehen, dass die Übermittlung von Botschaften über Jahrzehnte gar nicht so einfach ist und die Patina dem Datenträger zwar Gefühlstiefe verleiht, die transportierte Information aber ins digitale Nirwana befördert.

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Und hier noch wie immer der Tweet der Woche: