Früher wurde Getreide luftiger gesät und wuchs höher. Das passt nicht zur modernen Idee von Landwirtschaft. Mit Hilfe von Agrarchemie lassen sich sogar ganze Romane verhindern, stellt Peter Glaser fest.

Stuttgart - Hier geht es in Zukunft um die Zukunft. Das StZ-Hausorakel Peter Glaser befragt einmal die Woche die Kristallkugel nach dem, was morgen oder übermorgen sein wird – und manchmal auch nach der Zukunft von gestern. Dazu als Bonus: der Tweet der Woche!

 

Nehmen wir an, Joanne K. Rowling will doch noch einen weiteren Harry-Potter-Roman schreiben. Was wohl los wäre, wenn sich herausstellen würde, dass es eine Chemikalie gibt, die diese Absicht zunichte macht? Wütende Fans würden sich weltweit organisieren. Vor den Niederlassungen des Herstellers fänden Massendemonstrationen statt. Weinende Kinder, die sich um ein neues Abenteuer mit ihrem Lieblings-Zauberinternatszögling geprellt fühlen, würden die Menschen anrühren und erbittern ...

„dieses jahr wieder eine lustige kutschtour unternehmen?“, fragt die Bloggerin Ingeburg, „über mit halmverkürzungsmitteln eingesprühte felder? letztes jahr hatten die neben der kutsche herlaufenden hunde hinterher verätzte pfoten und lungenprobleme...“

Halmverkürzungsmittel?

Alte Getreidesorten wurden um bis zu einen halben Meter höher als die heute angebauten Varianten. Und die werden zusätzlich durch chemische Wachstumshemmer kurz gehalten – die sogenannen Halmverkürzer. Bei diesen Produkten handelt es sich um eine Chlorverbindung, die von der Pflanze in den Halm aufgenommen wird und das Zellwachstum beeinflußt. Die Pflanzen sollen nicht zu groß werden, damit die Halme mit den schweren Ähren stabil bleiben und dem Wind eine geringere Angriffsfläche bieten.

Getreide wird heute nicht mehr wie früher luftig gesät, sondern sehr dicht, um einen möglichst großen Ertrag zu bringen. So ist aus den modernen Hochleistungsäckern bereits das leuchtende Blau der Kornblumen verschwunden. Das Ackerwildkraut war an das herkömmliche Getreide angepasst und konnte sich an dessen hochwüchsigen Halmen anlehnen. Im freien Stand ist die Blume aber nicht balancierfähig genug und bricht ab.

Und so könnte heute auch eines der meistgelesenen Bücher überhaupt in dieser Welt der verkürzten Halme nicht mehr geschrieben werden – „Der Fänger im Roggen“. Der Titel von John Salingers Roman über das Erwachsenwerden erinnert an das beliebte Kinderspiel, bei dem Kinder ein Getreidefeld als Irrgarten benutzen. Holden Caulfield, der Held des Romans, stellt sich vor, die Kinder zu beschützen, indem er an einem Abgrund am Rand des Felds aufpasst.

Dieses Spiel läßt sich in Getreidefeldern mit verkürzten Halmen nicht mehr spielen – die Kinder sind immer schon größer als die modernen Getreidesorten. Und ein Buch nach einem Spiel zu betiteln, das kein Spiel mehr ist, macht keinen Sinn. Mit diesem prosaischen Sieg der Agrarchemie verschwindet die Möglichkeit, noch einmal ein solches Buch zu schreiben. Vielleicht ist ja eines genug.

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Und hier noch wie immer der Tweet der Woche: