Das ganze Leben eines Menschen aufzeichnen zu können, hört sich großartig an – oder erschreckend. Inzwischen gibt es Geräte, die einem anschaulich vorführen, aus was für einer langweiligen Ansammlung von Daten das Leben besteht.

 
 

Stuttgart - Hier geht es in Zukunft um die Zukunft. Das StZ-Hausorakel Peter Glaser befragt einmal die Woche die Kristallkugel nach dem, was morgen oder übermorgen sein wird – und manchmal auch nach der Zukunft von gestern. Dazu als Bonus: der Tweet der Woche!

 

Das ganze Leben eines Menschen aufzeichnen zu können, hört sich großartig an – oder erschreckend. Alles, was er sieht, hört, spricht, welche Medien und sozialen Netze er frequentiert, was er digital liest, schreibt, mailt. Lifelogging nennt sich das Konzept, freiwilliges Tracking.

Der Microsoft-Forscher Gordon Bell ist ein Pionier dieser Art von Aufzeichnung. Sechs Jahre lang hat er seine gesamten digitalen Dokumente, Fotos, Videos, Telefonate, die Musik, die er gehört und die Filme, die er gesehen hat, digital erfasst und so einschließlich seines per GPS protokollierten Aufenthaltsorts 150 Gigabyte an Daten auflaufen lassen – unter anderem mit einer sogenannten SenseCam, die er um seinen Hals trug.

Erinnerungen an das Leben

Die Firma Vicon verkauft das Gerät als Vicon Revue („Memories for Life”), eine kleine, rund 380 Euro teure Box, die man wie einen Anhänger an einer Kette trägt. Die acht Gigabyte Speicher reichen für etwa eine Woche Weitwinkelaufnahmen in hoher Auflösung aus. Der Auslöser wird automatisch aktiviert durch wechselnde Lichtverhältnisse oder Temperaturänderungen. Wenn man zum Beispiel in ein Restaurant geht, reagiert das Gerät auf das gedimmte Licht oder die Klimaanlage und beginnt, Fotos zu schießen.

Für das Projekt von Mr. Bell zeichnete dazu noch ein Keylogger jeden Tastendruck, jede Mausbewegung, jedes verschobene Fenster auf seinem Rechner auf. Die Speicheranforderungen für die massive Selbstüberwachung sind erstaunlich moderat. Von den 150 Gigabyte nehmen Videodaten etwa 60 GB ein, 25 GB die Fotos, 18 GB Musik und Audiodaten. Den Rest teilen sich etwa 100.000 Webseiten, ebensoviele E-Mails, 15.000 Textdateien, 2.000 Powerpoint-Files und ein bisschen Vermischtes. Wenn das ein ganzes Leben sein soll, dann ist das Leben ein trauriger Haufen Zeug.

Terabyte-Totalitarismus

Auch sein Buch „Total Recall”, das Bell gemeinsam mit seinem Kollegen Jim Gemmell geschrieben hat, wurde umbenannt: in der Taschenbuchausgabe heißt es nun „Your Life Uploaded” („Der digitale Weg zu Gesundheit, verbessertem Gedächtnis und Produktivität”). Einen solchen Fundus an digitalen Spuren anzapfen zu können, ist für Militärs und Marktforscher eine wundervolle Vorstellung, für andere ein Alptraum. Angesichts solcher Entwicklungen, die letztlich in einen Terabyte-Totalitarismus führen würden, wird wieder deutlich, dass das Vergessen kein Mangel ist, sondern etwas, das unser Menschsein wesentlich mit bestimmt. Es entlastet uns von unnötigem Erinnerungsballast, erleichtert Veränderung und Entwicklung, und die Fähigkeit zu vergessen macht aus uns soziale Wesen.

Auch das Militär interessiert sich für die Totalrückverfolgbarkeit. Das US-Verteidigungsministerium ist fasziniert von Sensoren in der Kleidung von Soldaten und möchte damit alles aufzeichnen, was ein kämpfender Soldat sieht, sagt und tut, damit die Kommandeure in ihren Rechnercontainern sich ein besseres Bild der Lage machen können.

Hier ebenso wie bei dem Vicon-Kästchen wird jedoch ein Problem eher erzeugt als gelöst. Die Militärs hätten gern eine Software, die aus den Log-Daten automatische Rapports generiert oder Details entdeckt, die der Soldat in der Einsatzhektik übersehen hat. Aber sie ertrinken ebenso in Daten wie die Vicon-Revue-Besitzer in der Banalität ihrer digitalen Tages-Daumenkinos ertrinken.

Das Leben, eine langweilige Ansammlung von Daten?

Das menschliche Gehirn hat Filtermöglichkeiten entwickelt, mit denen sich die auf einen Menschen durchschnittlich einströmenden 11 Millionen Bits pro Sekunde um den Faktor eine Million reduzieren lassen, um überlebenswichtige Entscheidungen schnell genug und aber auch informiert genug treffen zu können. An die fünfzig Bits pro Sekunde kann ein Mensch maximal bewusst aufnehmen. Von einem 380 Euro teuren Gerät kann man sich jetzt einerseits permanent vorführen lassen, wie unfähig man ist, und andererseits, aus was für einer langweiligen Ansammlung von Daten das Leben besteht.

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Und hier noch wie immer der Tweet der Woche: