Der Karlsruher Philosoph Peter Sloterdijk wagt sich mit der Naturphilosophie des deutschen Idealismus in die Feuchtgebiete des Geistes: In seinem Roman „Das Schelling-Projekt“ erkunden Forscher das Geheimnis des weiblichen Orgasmus.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Es gibt viele aktuelle Probleme, bei denen philosophischer Weitblick gefragt wäre. Die Frage nach Sinn und Zweck des weiblichen Orgasmus hätte sich da nicht unbedingt aufgedrängt. Eher schon die, warum die nüchterne Wahrheit in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verwicklungen einen so schweren Stand hat, ganz im Gegensatz zu den populistischen Potenzgebärden, deren Verführungskraft immer mehr Hirne erliegen.

 

Man kann dem Karlsruher Philosophen Peter Sloterdijk nun wahrlich nicht vorwerfen, sich nicht zu drängenden aktuellen Fragen zu äußern, schon eher, dass er es auf eine Weise tut, welche die Gebetsmühlen der Populisten vor allem mit immer neuen Formulierungen speist, etwa in seiner auf die Flüchtlingspolitik Angela Merkels gerichteten Warnung vor einer „Überrollung Deutschlands“.

Aber die Wahrheit ist für Sloterdijk eben nicht nüchtern, sondern viel eher ein Weib, wie es einer seiner Lieblingsgewährsmänner, Friedrich Nietzsche, seiner „Fröhlichen Wissenschaft“ voranstellt. Und deshalb kreist sein jüngstes Buch also um die Frage aller Fragen: Warum haben Frauen einen Orgasmus, wo dieses „luxurierte“ Empfinden für die schnöde Form der Arterhaltung so unnötig ist wie ein Kropf. Um dies herauszufinden, hat der philosophische Schriftsteller die Form des Romans gewählt, zum zweiten Mal nach seinem „Zauberbaum“ von 1985; damals über die Entdeckung des Unbewussten durch die obskuren Praktiken von Hypnotiseuren und Mesmeristen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.

Die tiefengynäkologische Wende

Dieses Mal lässt er den Leser in dem „Schelling-Projekt“, das dem Roman den Namen gibt, an der allmählichen Verfertigung wissenschaftlicher Thesen beim E-Mail-Verkehr teilhaben. Fünf Wissenschaftler mit für das Gebiet des zwischenmenschlichen Verkehrs so qualifizierenden Namen wie Guido Mösenlechzner, Desiree zur Lippe, Beatrice von Freygel, Kurt Silbe und Peer Sloterdijk heften sich aufgebretzelt mit der Naturphilosophie Schellings an den Rocksaum der Evolutionsgeschichte, um herauszufinden, wie die Beckenschaufel einer 70 000 Jahre alten afrikanischen Sapiens-Frau mit dem Seufzen der Geliebten zusammenhängt.

Weil zwischen jenen Relikten und diesem Befund eine Menge Lücken klaffen, bleibt Raum genug, sie mit jener metapherntrunkenen Sprachmacht zu füllen, die Peer und seine Mitstreiter mit dem Karlsruher Artikulationswunder ähnlichen Namens gemein haben. Um die Überlegenheit des weiblichen Sexualerlebens gegenüber dem männlichen zu fundieren, jene „tiefengynäkologische Wende der Philosophie im Denken des deutschen Idealismus“, wird das Feld mit Ergüssen aller Art bereitet, gedanklichen wie körperlichen.

Vielleicht trägt an allem ja Nietzsche Schuld. Seine Prosa sei der einzige Deutsch-Unterricht, den er bis heute gelten lasse, schreibt Peer an seinen wissenschaftlichen Stoßtrupp, „seine Meinungen interessieren mich kaum noch, doch wie er Sätze bildet, bleibt das Maß der Dinge“. Diese Lust an der Erscheinung ist für das Schreiben Sloterdijks charakteristisch. Die frivole Obsession des Ausdrucks macht ihn bisweilen zu einem eher windigen Ratgeber in Fragen philosophischer Weltdeutung, aber zu einem umso erfolgreicheren Kavalier im Reiche der Ideen. Von niemand bekommt man die Wirklichkeit in delikateren Sprachbildern aufbereitet, niemand pflegt den Habitus anstößiger Einsichten galanter als der Großmeister des philosophischen Apercus. So war es nur eine Frage der Zeit, bis sich Philosophie und Pornografie aufeinander reimen würden. Man könnte geradezu sagen, das Vergnügen an steilen Thesen durchaus im metaphorischen Sinn kommt hier erst auf den Begriff.

Rudelbumsen in München, Tantra in Kiel

Und so ordnet sich dieser schwellende und schwallende Roman nach einer Dramaturgie der pikanten Stellen. Immer wieder verdichtet sich das Gespinst aus Metaphern, extravaganten Theorie-Paraphrasen und gelehrten Anekdoten zu witzigen Sentenzen. Der Phallus: „Bei Licht betrachtet nicht mehr als ein überschätzter Pilz. Er ist nicht einmal ein Muskel aus eigenem Recht und hängt ganz jämmerlich ab von Appellen zur stärkeren Durchblutung.“ Sein Gegenstück: „Das unbetretbare Innere des griechischen Tempels. Von ihm haben die späteren Christen das Allerheiligste abgeleitet, den entrückten Raum, der allein der Gegenwart Gottes vorbehalten blieb.“ Wie beides nun zusammenkommt, erläutern die Teilnehmer anschaulich mit Szenen aus ihrem privaten Leben: Rudelbumsen in wilden Münchner WG-Tagen („Peer lag rücklings auf einer Futonmatraze, die damals unausweichlich zum Mobiliar gehörte, alternativ und steinhart wie das Leben in der Klassenlosigkeit“) oder Tantra in Kiel mit dem mystischen Luder Mira, was zur umwerfend komischen Erleuchtung führt: „So stelle ich mir Pilzesammeln mit Peter Handke vor.“

Manche Hoffnung wird geschürt, die auf guten Sex im Alter: „Sobald es biologisch sinnlos geworden ist und die Familienplanung ins Leere läuft, wirft das Liebesspiel die Fesseln ab.“ Manche Erwartung wird zerstreut, so die Spekulation von Selbstmord-Attentäter auf blühende Jungfrauen im Paradies: „Sexuelle Aktivität und Nachleben im Jenseits schließen sich in jeder Hinsicht gegenseitig aus – nirgendwo auf der Erde stirbt man, um auf der anderen Seite zu koitieren.“

Eintreten ohne anzuklopfen

In den Feuchtgebieten, wo der Geist sich im Geistreichen verliert, sind Sloterdijks Geschöpfe in ihrem Element. Lüstern überschreiten sie diskursive Anstandsregeln, wenn Frau von Freygel osteuropäischen Möbelpackern demonstrativ erlaubt, „einzutreten ohne anzuklopfen“. Genüsslich lässt das Sicherheits-Scharnier der Rollenprosa moralische Empörung ins Leere laufen. Allerdings klingen alle Beiträge verdächtig nach Sloterdijk, so dass man durchaus von einer Überrollung der Figuren durch den Autor sprechen könnte.

So trägt dieser Austausch doch eher autoerotische Züge. Und aller Fundamental-Gynäkologie zum Trotz entsteht aus vielen Stellen noch kein organisches Ganzes, kein Roman, schon gar nicht eine E-Mail-Version des platonischen Symposions, über das Zusichselbstkommen der göttlichen Natur im weiblichen Orgasmus.

Zwischen Wissenschaftssatire und akademischer Liebeskunst schleppt sich das Schelling-Projekt dahin. Und so gilt am Ende für diesen teils doch eher mühsamen philosophischen Akt mehr noch als für andere: Post coitum animal triste.