Seit einem halben Jahr arbeitet die Chinesin Wenjing Cai im Seniorenwohnheim und fasst langsam Fuß. Sie ist beeindruckt von deutschen Kücheneinrichtungen und staunt darüber, dass echte Blumen auf den Balkonen wachsen.

Aus den Stadtteilen: Kathrin Wesely (kay)

S-West/S-Mitte - In China haben sie ihr gesagt, Deutschland sei ein Dorf. Und für Wenjing Cai hat sich das irgendwie bestätigt. „Hier sind viel weniger Leute auf der Straße. Es ist so schön ruhig. In China ist es viel lauter und chaotischer.“ Die junge Frau stammt aus Guangzhou, einer für hiesige Verhältnisse unfassbar großen Stadt mit mehr als elf Millionen Einwohnern. Die südchinesische Metropole wird auch gern als „Fabrik der Welt“ bezeichnet. So nimmt es nicht Wunder, dass Cai Stuttgart putzig findet.

 

Sie ist eine der 150 Chinesinnen, die bis Ende des Jahres hier anlanden, um in einem Pilotprojekt zunächst als Pflegehilfskraft und nach erfolgter Anerkennung als Fachkraft zu arbeiten. 27 von ihnen sind bei Arbeitgebern in Baden-Württemberg beschäftigt, davon viele in Häusern in der Region Stuttgart. Cai arbeitet in der Eduard-Mörike-Seniorenwohnanlage des Wohlfahrtswerks. Ihr erstes Foto für die Lieben daheim hat sie vom Balkon der Anlage geschossen, wo sie auch ihre Wohnung hat: Hinten Hänge und Häuser, vorne die Geranien am Balkon. „Echte Blumen!“, konstatiert sie anerkennend.

Sissi spricht akzentfrei Deutsch

Mit acht Monaten Sprachkurs gerüstet, war sie im Sommer 2014 in ihr neues deutsches Leben aufgebrochen. In kürzester Zeit hat sich die 28-Jährige ein akzentfreies Deutsch angeeignet. „Ich lerne mit CDs. Ich muss die Sprache hören.“ Zum Pauken geht Cai in die Stadtbibliothek. Eine ihrer Seniorinnen übt mit ihr Grammatik und verbessert beim Sprechen ihre Fehler. Die 84-Jährige nennt Cai ihr „Schätzchen“, alle übrigen im Seniorenheim sagen „Sissi“ zu ihr. Den Spitznamen hat sie sich zugelegt, weil er für deutsche Ohren einprägsamer ist als Wenjing. Die Leute im Heim schätzen ihre herzliche, direkte Art, ihre lebhafte und ausgreifende Gestik hat etwas Mitreißendes und straft nebenbei das Klischee von der stummen Zurückhaltung asiatischer Frauen Lügen.

Die professionelle Pflege älterer Menschen, wie sie in Europa üblich ist, hat Cai in China einem speziellen Studiengang erlernt. In China selbst ist sie gar nicht üblich: „Es gibt fast keine Altenheime, auf dem Land schon gar nicht. Die alten Menschen leben normalerweise bei ihrer Familie.“ Allerdings verändere sich das gerade – zumindest in den großen Städten, hat Cai beobachtet. Die Lebensweise moderner Städter in China nähere sich derjenigen in Europa schleichend an.

Deutschland ist für Cai das ganz große Abenteuer

In China sei die Familie der Lebensmittelpunkt. Erst im landeskundlichen Unterricht habe sie erfahren, dass das in Deutschland anders ist. „Es ist bei uns nicht üblich, dass man mit einem Mann zusammenwohnt, aber nicht mit ihm verheiratet ist. Meine Eltern zum Beispiel würden das nicht verstehen. Viele würde auch nicht verstehen, dass einem die Wohnung nicht gehört, in der man lebt. Bei uns mietet man keine Wohnungen.“ Trotz ihres bemüht neutralen Tonfalls kann man sich des Eindrucks kaum erwehren, dass nicht bloß die Eltern solche Lebensweise befremdet.

Deutschland ist für Cai das ganz große Abenteuer. Und die couragierte junge Frau ist wild entschlossen, allein, fernab der Familie, in einer Welt, die eine andere Sprache spricht, Miete zahlt, Patchworkfamilien gründet und Spätzle isst, ihren Platz zu finden. Sie ist gekommen, um zu bleiben. Der Lebensstandard ist hier unvergleichlich höher als in der Heimat. Als Fachkraft verdient sie in Deutschland gut das Fünffache. Ihr Mann, sagt sie, werde nachkommen, sobald sie ihre Anerkennung als Altenpflegerin in der Tasche habe. Er lerne schon eifrig Deutsch.

Cai: Küche sieht aus wie Labor

Cai will dieses Deutschland kennen lernen. Am Wochenende setzt sie sich gern in den Zug, um neue Orte zu erkunden. Ihre landeskundliche Exkursionen führten sie bereits nach Berlin, Heidelberg, Baden-Baden, Wien, Tübingen, Neuschwanstein und Freiburg. Als Souvenirs hat sie Magnete mitgebracht, mit denen sie ihren Kühlschrank pflastert. Sie zeigt sie stolz, als wären es Trophäen. Besonders gefallen hat ihr Berlin: „Ich habe da Couch-Surfing gemacht. Die Frau, bei der ich wohnte, war sympathisch! Sie hat mich durch die Stadt geführt“, erzählt sie begeistert. Die Augen funkeln, die Hände fliegen.

Mit selben Eifer studiert Cai die deutsche Alltagskultur. Zorka Markovic ist einer der Menschen, die ihr dabei helfen. Zunächst war sie Cais Anleiterin bei der Pflege, heute sind die beiden Freunde. „Es hat mit einem Grillabend bei mir zuhause angefangen“, erzählt Markovic. Ihr Mann sei Lehrer und unterrichtet mittlerweile Wenjing Cai und einige der anderen chinesischen Neuankömmlinge in Deutsch. Sie selbst kocht manchmal mit den Frauen, bringt ihnen deutsche Gerichte bei. Von der Küchenausstattung ihrer Freundin zeigt sich Cai beeindruckt: „Sieht aus wie ein Labor – mit all den vielen Geräten!“ Richtig tief sind Cais Einblicke in deutsche Töpfe aber offenbar noch nicht: „Wenn ich zuhause bei mir was Deutsches zubereite, dann meistens Käsebrot.“

Ansonsten ist Essen eigentlich eher einer der Heimweh-Faktoren, genauso wie das chinesische Neujahrsfest, das sie verpasst hat. „Wissen Sie, das ist für uns wie Weihnachten“, sagt Cai. Damit wenigstens die fernmündliche Kommunikation mit der Familie in Kanton flutscht, ist sie technisch bis auf die Zähne bewaffnet. Abgesehen davon lässt ihr kleines Appartement eher auf den Typus Spartanerin schließen – zurückhaltend Ikea. Das Möbelhaus kennt sie aus China: „Genau dieselben Sachen.“ Die Wand hat sie mit einem kleinen Bild dekoriert – ein auf Seide gemaltes chinesisch Schriftzeichen. Sie hat es beim Trödler in Heslach entdeckt. „Es bedeutet ‚Frühling‘. Bloß einen Euro – mit Umrahmung!“