Nathalie Vogel macht eine Ausbildung im Stuttgarter Tierheim. Täglich ist die 25-Jährige großen körperlichen und seelischen Belastungen ausgesetzt.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Stuttgart - Kaum sitzt sie um acht im Büro, klingelt pausenlos das Telefon. Eine überfahrene Katze, ein herrenloser Hund und eine entkrabbelte Schildkröte werden gemeldet. Nathalie Vogel notiert sich die Fälle, informiert die zuständigen Kollegen und krault nebenher den betagten Boxer Happy hinterm Ohr.

 

Nathalie Vogel – 25 Jahre alt, 1,49 Meter groß, verlobt, ein Kind – hat sich ihren Ausbildungsplatz erschuftet. Ein halbes Jahr, vormittags von 9 bis 12, schrubbte sie im Stuttgarter Tierheim ehrenamtlich Käfige. Anschließend durfte sie, wieder unentgeltlich, „probearbeiten“. Einen Monat im Katzenhaus, einen Monat bei den Hunden. Es folgte ein Jahrespraktikum. Futtersäcke schleppen, Schubkarren schieben, Kacke wegputzen. Oft im Freien bei 35 Grad Hitze oder zehn Grad Kälte. Seither weiß sie, was es bedeutet, Tierpflegerin zu sein. Ihr Traumberuf ist ein schöner Drecksjob.

Rund 500 Bewerbungen für einen Ausbildungsplatz landen jährlich auf dem Schreibtisch von Marion Wünn. Oft seien die Interessenten zartbesaitete Mädchen, die glaubten, sie könnten gegen Bezahlung mit niedlichen Fellgeschöpfen schmusen, berichtet die Tierheimleiterin. Stattdessen müsse man für diesen Beruf nicht nur körperlich zäh, sondern auch seelisch stabil sein. „Die meisten Tiere, die bei uns landen, sind nicht freundlich, sondern zunächst mal verstört“, sagt Marion Wünn. „Das muss man aushalten können. Und noch vieles mehr.“

Nervenaufreibende Routine

Im Tierheim wird deutlich, dass Menschen nicht unbedingt menschlich sind. Manche entsorgen Lebewesen wie Joghurtbecher. Kürzlich haben Unbekannte in der Nacht sieben Mischlingshunde über den Zaun geworfen. Die tägliche Routine ist weniger dramatisch, aber immer nervenaufreibend: Eine Rentnerin will ihren Kater abholen lassen, weil sie ihn nicht mehr selbst zum Tierheim tragen kann. 13 Kilo wiegt Zeus, normal wären fünf. Eine Dame gibt ihren Yorkshire Terrier ab. 15 Jahre war das Hündchen in der Familie, nun ist er aus Sicht seines feinen Frauchens nur noch eine Last. Also weg damit. Stünde Diplomatie auf dem Lehrplan der Karlsruher Berufsschule, die Nathalie Vogel regelmäßig zum Blockunterricht besucht, hätte sie eine Eins verdient: „Es gibt Leute, denen ich den Hals umdrehen könnte“, sagt sie, „trotzdem bleibe ich immer freundlich.“

Kurz vor zehn fährt ein Kastenwagen vor, zwei Mitarbeiter der Stadt Fellbach bringen den um acht gemeldeten herrenlosen Hund vorbei. Der reinrassige Epagneul Breton wird in einer Kunststoffbox zum Quarantänegebäude getragen. Gitter auf, das Tier schleicht geduckt ans Neonlicht und bleibt zitternd auf dem Steinboden stehen. Die Pflegerin hält ihm einen Scanner an den Hals, es piept, und eine Nummer erscheint im Display – der verängstigte Bretone ist registriert. Nathalie Vogel schaut im Computer nach: Vor vier Tagen wurde Rocky in Bad Cannstatt als vermisst gemeldet. Schnell seinen Besitzer anrufen. Herr K. hört schlecht, es dauert eine Weile, bis er die frohe Kunde vernommen hat.

Keine halbe Stunde später steht Herr K. vor Nathalie Vogel und wirkt genauso orientierungslos wie sein Rocky. „Sie haben meinen Wauwau?“ – Ja.“ – „Ich muss mal auf die Toilette.“ – „Die Tür gleich dort rechts neben dem Kaffeeautomaten.“ Herr K. kommt erleichtert zurück, er erzählt: Rocky ist bei einem Spaziergang am Neckarufer aus dem Halsband geschlüpft und abgedampft. Vielleicht folgte er der Spur einer läufigen Hündin. Bis nach Fellbach! Herr K. suchte vier lange Tage nach seinem Rocky, zuletzt im strömenden Regen. Ach, was hat er sich gesorgt, Rocky ist ja krank, Leishmaniose, der braucht doch regelmäßig seine Tabletten.

Wiedersehen mit Rocky

Keine Spezies freut sich so schön wie der Canis lupus familiaris, der domestizierte Artverwandte des Wolfes. Rocky kann nicht mit dem Schwanz wedeln, der ist kupiert, dafür wackelt der Bretone mit dem ganzen Hinterteil, als er sein Herrchen wiedersieht. „Ja, was hast du denn in Fellbach gesucht?“, fragt Herr K. seinen Fellkumpel. „Wolltest du zum Weinfest?“ Nathalie Vogel kassiert 15 Euro Bearbeitungsgebühr. „Passen Sie gut auf Ihren Hund auf!“, ruft sie Herrn K. hinterher.

Als sich die Tür öffnet, ist von draußen lautes Gebell zu hören. Vor einigen Jahren haben die Bewohner der gegenüberliegenden Hochhäuser wegen der permanenten Lärmbelästigung geklagt. Seither muss das Tierheim zwischen 12 und 14 Uhr geschlossen werden: Ohne den stressigen Publikumsverkehr halten die Kläffer ihre Schnauzen. In der Ruhepause vespert Nathalie Vogel eine Kleinigkeit, dann rollt sie sich in einem Hundekorb zusammen und hält ein Nickerchen.

Punkt zwei bildet sich eine Menschentraube vor dem feuerverzinkten Tor: Gassigeher und Leute, die ein Tier adoptieren oder eines abgeben wollen. Auf ihr ungeduldiges Klingeln reagiert niemand. „Drinnen ist bestimmt irgendwas Schlimmes passiert“, unkt jemand.

300-mal täglich klingelt das Telefon

Eine Pflegerin hat es erwischt. Zwei Rüden sind plötzlich aufeinander los, sie ist dazwischen gegangen. Die Hunde sind unverletzt, bei der Pflegerin klafft eine blutende Wunde am Unterschenkel. Ein Kollege fährt sie ins Krankenhaus. Personal ist ohnehin knapp, jetzt muss improvisiert werden. Azubi Nathalie kümmert sich geschwind um eine kranke Katze. Dann huscht sie rüber zum Hundehaus, um die Kollegen darüber zu informieren, dass der Bullterrier Pac im Auslauf lauert. Nicht dass er unbemerkt bleibt und andere Hunde zu ihm gelassen werden, Artgenossen kann Pac nämlich nicht leiden. Dann wieder zurück ins Büro, wo ein grauhaariger Herr wartet, der seine frisch adoptierte Hündin – „die süße Joy“ – abholen will. Übernahmevertrag abschließen, Personalausweis kopieren, den Vorgang im Computer erfassen. In ein paar Wochen wird ein Tierheimmitarbeiter bei dem grauhaarigen Herrn zu einem Kontrollbesuch vorbeischauen. Schließlich muss gewährleistet sein, dass die süße Joy in gute Hände geraten ist.

Rund 2000 vierbeinige, behaarte oder gefiederte Kreaturen werden in diesem Jahr wieder im Stuttgarter Tierheim landen, dem größten in Baden-Württemberg. Durchschnittlich 300 Mal klingelt im Büro täglich das Telefon, viele Menschen mit vielen Fragen. „Ich habe eine verletzte Amsel gefunden, was soll ich mit ihr machen?“ – „Auf unserem Werksgelände treibt sich eine Katze rum, sollen wir sie einfangen?“ – „Meine Mutter ist gestern gestorben, kann ich ihren Graupapagei bei Ihnen abgeben?“ Die Antworten gibt‘s gratis.

Das Tierheim dient dem Allgemeinwohl, lebt aber hauptsächlich von Spenden und Erbschaften. Im Frühjahr, als es wieder mal fast pleite war, bekamen die Katzen notgedrungen billigeres Futter und als Folge häufiger Durchfall. 200 000 Euro „Aufwandsentschädigung“ zahlt die Stadt zurzeit jährlich an den Träger, den ältesten Tierschutzverein Deutschlands. Nach einer Betteloffensive sollen es künftig immerhin rund 450 000 Euro sein. Auch das ist ein überschaubarer Betrag angesichts der gesetzlichen Pflicht, dass jede Kommune für die artgerechte Unterbringung von Fund- und Verwahrtieren sorgen muss.

Ein emotionsgeladener Kosmos

Das letzte Einzelschicksal an diesem Tag: eine Frau, Mitte 20, tätowierter Unterarm, führt einen Windhund-Mischling ins Büro. Sie habe einer Freundin versprochen, ein paar Tage auf Cookie aufzupassen, doch daraus seien inzwischen sechs Wochen geworden, und die Freundin melde sich nicht: „Ich habe keine Zeit für den Hund, ich muss täglich 13 Stunden arbeiten.“ Die Tätowierte kämpft mit dem schlechten Gewissen und den Tränen. „Kein Problem, Sie können Cookie hier lassen“, sagt Nathalie Vogel im Seelsorgerton. „Aber Sie sollten sie nicht besuchen, weil es der Hund nicht verstehen würde, wenn Sie wiederkommen und ihn erneut verlassen. Dadurch würde er nur noch trauriger.“ – „Was machen Sie mit Cookie?“ – „Sie kommt zunächst in Quarantäne, wird entwurmt, geimpft, gechipt und kastriert. Danach nehmen wir Cookie in die Vermittlung.“

In den allermeisten Fällen findet sich ein neues Zuhause. Für die wenigen tragischen Fälle ist das Tierheim die Endstation. Mäxle hat einen Hirnschaden, er lebt in seiner eigenen Welt. Kaum anzunehmen, dass sich jemand findet, der einen Westhighlandterrier nimmt, der nicht einmal seinen Urin halten kann. Vermutlich wird Mäxle im Tierheim sterben, so wie im vergangenen Jahr Lady: Um das ehemalige Zirkuspferd kümmerte sich Nathalie Vogel, bis es wegen eines Darmtumors nicht mehr fressen konnte. Lady wurde eingeschläfert, ihre Pflegerin stand weinend daneben. „Jeden Tag erlebe ich hier Wunderschönes und ganz arg Schlimmes.“

Nathalie Vogel ist in einen emotionsgeladenen Kosmos eingetaucht, für unterdurchschnittlichen Lohn zeigt sie überdurchschnittliches Engagement. Stets ist sie einsatzbereit, auch an Weihnachten oder Silvester. Über Nacht nimmt sie Welpen, kranke oder besonders ängstliche Hunde mit nach Hause zu ihrem Verlobten, ihrem Sohn, ihrem Border-Collie-Mischling und ihrem alten Kater. „Jede Verbesserung in unserer Beziehung zur Tierwelt bedeutet einen Fortschritt auf dem Wege zum menschlichen Glück“, schrieb einst Émile Zola. Sollte sich der große französische Romancier nicht getäuscht haben, befindet sich Nathalie Vogel auf einem guten Weg.