Bedeutet dieser unkorrigierte Glücksbegriff, dass alle als Versager gelten, die nach dieser Definition kein gelingendes Leben führen?
Allein der Begriff des gelingenden Lebens ist so verheerend wie der Glücksbegriff. Denn es gibt kein gelingendes Leben. Leben misslingt immer bis zu einem gewissen Grad. Es misslingen Beziehungen, berufliche Tätigkeiten, manchmal die Kinder, kleine Dinge im Alltag. Den Schalter, damit alles gelingt, hat noch keiner gefunden.
Sie sehen sich ja als Lebenskunstphilosoph. Was ist dann eigentlich diese Kunst?
Es heißt nicht, ein gelingendes Leben zu führen. Es geht darum, ein volles Leben zu führen.
Aber ist es nicht vielleicht auch wichtig für die Menschen, einen Traum vom Glück zu haben?
Eigentlich nicht. Es wäre wichtiger, sich eine große Herausforderung zu suchen und zu bewältigen. Zum Beispiel eine Familie gründen, man hat da viel zu tun und kann auch ausreichend oft verzweifeln. Und je älter man wird, desto glücklicher ist man über die Kinder. Es gibt aber auch andere Herausforderungen, die man sich suchen kann, zum Beispiel einen anspruchsvollen Beruf. Und auch in diesem Feld gilt: es macht nicht nur glücklich. In meinem Beruf hatte ich lange unglückliche Phasen, ich musste mich einfach durchbeißen. Aber das hat mich nicht interessiert, weil ich nie nach Glück gefragt hatte, sondern ich wollte eben sein, was ich bin.
Wären Sie ebenso glücklich, wenn Sie ein armer Schlucker ohne Ihre Bücher wären?
Ja, sicher. Es stand ja nie fest, dass meine Bücher irgendjemanden interessieren. Ich hab sie trotzdem geschrieben. Viel wichtiger als Glück ist Sinn.
Wie definieren Sie Sinn?
Gefühlter Zusammenhang – zu einem Menschen, zum Beruf, einem Wesen, der Natur. Sinn ergibt sich, wenn wir eine Beziehung zu jemandem eingehen.
Warum haben wir es so schwer, die Wahrheit zu akzeptieren, dass Unglück dazugehört?
Weil die Moderne den Menschen versprochen hat, dass das Paradies sich auf Erden realisieren ließe. Und Wissenschaft und Technik haben alle Anstrengungen unternommen, das zu realisieren. Nicht ohne Erfolg – Medizin und Technik erlauben uns heute zum Beispiel, schlimme Krankheiten zu heilen. Daraus haben die Menschen geschlossen, das Leben lasse sich letztlich beherrschen.
Aber da handelt es sich ja eher um die Abwendung von Unglück als die Anwesenheit von Glück.
Ja, aber die Menschen sind davon überzeugt, dass das Positive automatisch in dem Moment ausbricht, in dem sie alles Negative eliminiert haben. Was nicht stimmt. Es wird nicht gelingen. Wir würden es auch nicht aushalten. Schon Goethe sagte, nichts ist so schwer zu ertragen wie eine Serie von guten Tagen.
Die Perfektionierung des Selbst und des eigenen Glücks ist ein gesellschaftlicher Anspruch – wer das nicht schafft, ist gescheitert. Wie sind wir bloß auf diese seltsame Art gekommen, das Leben zu betrachten?
Das liegt daran, dass die Moderne kein Schicksal anerkennt. Während die vormoderne Gesellschaft fatalistisch ist, beherbergt der moderne Traum Glück die gegenteilige Idee. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo in der Mitte. Die Vorstellung, alles bestimmen zu können, widerspricht jedenfalls der Realität. Zufälle kommen ständig vor, wir können sie nicht ausschalten. Es ist doch eine verrückte Vorstellung, dass man zum Beispiel den eigenen Lebenspartner systematisch gesucht, gefunden und okkupiert habe. Das gilt für niemandem.