Romantisch veranlagte Menschen könnten dem Philosophen Wilhelm Schmid Pessimismus unterstellen. Schmid behauptet, dass wir auf der ewigen Suche nach Glückseligkeit einem Phantom hinterherjagen. Ein Gespräch über Glück.

Stuttgart – - Von wegen, Philosophen seien verträumte Bewohner selbst verfertigter Gedankengebäude: Wenn man Wilhelm Schmid zu Hause in Berlin-Charlottenburg aufsucht, kann es sein, dass er gerade von Besorgungen kommt und erst einmal die Frischmilch aus der Bio-Abokiste versorgen muss, bevor er sich der Gesprächspartnerin zuwendet. Das tut er dann allerdings mit entschiedener Gelassenheit.
Herr Schmid, was ist der Traum vieler Menschen vom Glück?
Das kann man sehr einfach beantworten. Die meisten Menschen träumen schlicht davon, immer glücklich zu sein. Dazu gehört für sie, dass sie in einer guten Beziehung leben, ausreichend Geld haben, einen sicheren Job haben, Spaß haben, Lüste genießen. Es geht kurz und gut darum, sich wohlzufühlen. Deshalb nenne ich dieses Glück das Wohlfühlglück.
Das klingt so, als gäbe es sehr feste Glücksparameter für die Mehrheit. Warum ist der Traum vom Glück nicht individueller?
Weil es eigentlich um einen Traum geht, der seit Jahrtausenden geträumt wird – es handelt sich um den Traum vom Paradies. Zu früheren Zeiten war dieser Traum projiziert, im Jenseits angesiedelt. Im 18. Jahrhundert haben Menschen angefangen, sich zu fragen, warum sie auf das Jenseits warten sollten und gesagt: Das mit dem Traum machen wir im Diesseits. So entstand der moderne Traum vom Glück.
War das eine gute Idee?
Sie enthält die Vorstellung vom dauerhaften Glück. Das allerdings ist das Einzige, was Glück nicht kann: dauerhaft sein.
In der kapitalistischen Gesellschaft ist Erfolg gleichgesetzt mit Glück. Warum?
Erfolg ist grundsätzlich erfreulich. Er kann einen glücklich machen. Aber auch hier gilt, dass er nicht dauerhaft existieren kann. Er ist immer nur um den Preis des Misserfolges zu haben, das können alle Erfolgreichen bestätigen. Dinge gelingen, Dinge misslingen.
Gibt es auch Gesellschaften, die Erfolg nicht mit Glück in Zusammenhang bringen?
Für die moderne, kapitalistische Gesellschaft ist das Standard. Gerade in den Schwellengesellschaften in Indien, China, Brasilien ist das Streben nach Erfolg absolut bedeutsam. Ich bin seit vier Jahren in China beruflich unterwegs. Als ich dort ankam, lernte ich, dass für Chinesen von heute Glück gleichbedeutend mit viel Geld und Erfolg ist. Nach einigen Jahren bemerken die Menschen, dass mit dem Erfolg andere Dinge kommen, die sie nicht bestellt haben: Wenn alles erreicht ist, zerbrechen Beziehungen, Kinder fallen von der Familie ab.
Was hat das eine mit dem anderen zu tun?
Die wichtigste Gesetzmäßigkeit ist eben, dass es das Leben nur in Polarität gibt. Erfolg nicht ohne Misserfolg, Lüste nicht ohne Schmerzen, Liebe nicht ohne Kummer.
Warum blenden wir modernen Menschen diese uralte Erkenntnis aus?
Weil es in der Vorstellung des Paradieses, die der modernen Glückserwartung zugrunde liegt, auch keine Schmerzen gibt.
Aber die Realität lehrt uns jeden Tag etwas anderes.
Die Realität interessiert die meisten Menschen überhaupt nicht. Sie wollen Träume.
Wenn die Wirklichkeit und die Wünsche so differieren, ist das doch anstrengend, oder?
Ja, es gibt einen Glücksterror. Die Menschen beginnen am Glück zu leiden. Das ist zwar total widersinnig, führt aber bisher nicht im großen Stil dazu, die Vorstellung vom Glück so zu definieren, dass sie zu unserem Leben passt. Alle halten schön fest an ihren Ideen.
Und dann?
Gehen sie zum Beispiel eine Beziehung ein, um glücklich zu sein. Sie sind es auch erst, aber nach einem halben Jahr passiert das Normale: es gibt Enttäuschungen, Verletzungen und Ärger. In einer Beziehung kann man nur das ganze Leben erfahren. Die Menschen wollen aber nur noch die eine Hälfte: nur Freude, nur Lust, nur Leichtigkeit, nur das Besondere. Und weil ihre Erwartung so übersteigert ist, macht der Alltag dann die Beziehungen platt. Wem es allein um Glück geht, der muss jede Beziehung beenden.