Seit einem halben Jahr sitzt ein Pirat im Gemeinderat von Göppingen. Der versucht sich frei zu schwimmen. Doch das ist halt gar nicht so leicht, wenn man sich auf eine Zusammenarbeit mit Christian Stähle von den Linken einlässt.

Baden-Württemberg: Eberhard Wein (kew)

Göppingen - Sind die Monologe des Grünen-Chefs Christoph Weber wirklich so lange, wie es immer heißt? Was kritzelt der CDU-Stadtrat Volker Allmendinger während der Sitzungen ständig auf seinen Papieren herum? Wer in der SPD-Fraktion hat für, wer gegen den zweiten Bauwagen für den Waldkindergarten gestimmt, und wer war gerade draußen an der Bar Butterbrezel holen? Vor allem aber: wer ist nun eigentlich der Bösewicht, der das Klima im Göppinger Gemeinderat so nachhaltig vergiftet – der Linke Christian Stähle oder doch vielleicht der Oberbürgermeister Guido Till höchst persönlich?

 

Live aus dem Gemeinderat

Wäre es nach Michael Freche gegangen, könnte jeder Göppinger – und sogar jeder andere auf der Welt – sich all diese Fragen bald selbst am heimischen Computer beantworten. Mit ein paar Klicks ließe sich der Podcast der jüngsten Gemeinderatssitzung live oder zeitversetzt herunterladen und ansehen. Man mag sich die Frage stellen, ob diese Übertragungen eine Bereicherung für die deutsche Medienlandschaft darstellen würden. Für Freche steht aber fest, dass sie die Arbeit des kommunalpolitischen Gremiums für die Bürger transparenter machen würden. „Das steuert auch einer gewissen Politikverdrossenheit entgegen“, sagt Michael Freche.

Es sind solche Themen aus dem Kernprogramm der Piraten, mit denen Freche seit seinem Einzug in den Göppinger Gemeinderat nach der Kommunalwahl im Mai des vergangenen Jahres auf sich aufmerksam macht. Und sein Haushaltsantrag, 50 000 Euro für die Bereitstellung des nötigen Equipments zu bewilligen, hätte sogar fast Erfolg gehabt. Mit 15 zu 18 Stimmen behielten noch einmal die Bedenkenträger um den OB knapp die Oberhand.

Was von LiPi kommt, muss schlecht sein...

Für einen Antrag, der aus den Reihen der LiPi-Fraktion gestellt worden war, ist dies ein äußerst respektables Ergebnis gewesen. Anders ausgedrückt: Hätte sich Freche nach der Kommunalwahl, bei der er als einziger Pirat in den 40-köpfigen Gemeinderat einzog, nicht gerade für eine Fraktionsgemeinschaft mit den Linken um den umstrittenen Christian Stähle entschieden, hätte er mit diesem und anderen Anträgen vielleicht mehr Aussicht auf Erfolg gehabt. „Bei vielen gehen bei LiPi einfach die Rollläden runter“, bekennt der CDU-Fraktionsvorsitzende Felix Gerber. Und auch Freche hat mittlerweile gelernt: „Da hat sich bei vielen ein gewisser Automatismus entwickelt. Eigentlich ist das eine traurige Aussage.“

Ist Freche Stähles Schoßhündchen, oder wird er mäßigend auf seinen Fraktionschef einwirken können? Nach dem ersten halben Jahr fallen die Antworten unterschiedlich aus. Es sei schön zu sehen, dass sich Freche allmählich emanzipiere, meint der Vorsitzende der Freien-Wähler-Fraktion, Stefan Horn. Der SPD-Fraktionschef Armin Roos attestiert dem Piraten, ein umgänglicher Mensch zu sein, der sich vor allem auf seinen Spezialgebieten Internet und Feuerwehr gut auskenne. Allerdings habe er schon die Hoffnung gehegt, dass man im Gemeinderat in der neuen Konstellation zu einem friedlicheren Umgang komme – was bisher aber nicht gelang, bedauert Roos. Möglicherweise sei es politisch eben doch ein Fehler gewesen, sich der Linken anzuschließen.

Keine Liebesheirat mit Stähle

Dass der Zusammenschluss mit Stähle ein gewisses Risiko birgt, sei ihnen von Anfang an bewusst gewesen, sagt Julian Beier. Der 20-jährige Piratenaktivist ist nebenamtlicher Fraktionsmitarbeiter von LiPi. Im Wahlkampf oder innerhalb des Bündnisses Kreis Göppingen nazifrei sei man immer mal wieder mit Stähle aneinander gerasselt. Dennoch stimmte nach ausführlicher Diskussion eine Mehrheit der Mitglieder der kleinen Partei für das Wagnis. „Aus meiner Sicht wäre auch eine Zusammenarbeit mit den Grünen möglich gewesen“, sagt Freche. Doch Stähle konnte eben einfach mehr bieten: Ausschusssitze, Aufsichtsratsposten, Ältestenrat. Ohne den Piraten wären auch Stähles Linke hier mangels Fraktionsstatus leer ausgegangen.

Gemeutert hat der Pirat gegen seinen Fraktionschef noch nicht. Bisher wurde er aber auch nicht für dessen Eskapaden in Mithaftung genommen, was teilweise sogar skurrile Züge annahm. Als der OB LiPi verdächtigte, in den öffentlichen Fraktionssitzungen Interna aus geheimen Aufsichtsräten ausgeplaudert zu haben, reagierte die Fraktion mit einer Anzeige wegen übler Nachrede. „Stähle zeigt OB an“, hieß es tags darauf in der Presse. „Dabei bin ich bei der Polizei gewesen“, sagt Freche, der zum OB ein distanziertes, vielleicht sogar ein Nicht-Verhältnis pflegt. „Ein persönliches Gespräch zwischen uns gab es noch nicht.“

Der Stadtrat hat Begleitung

Dennoch ist er überzeugt, dass der Einfluss der Piraten innerhalb von LiPi und auch im Gemeinderat zu spüren sei. Übrigens ist er keineswegs ein Einzelkämpfer. In jeder Sitzung sitzen – was bei anderen eher unüblich ist – Mitglieder seiner Partei im Zuschauerraum, die im Hintergrund Erstaunliches leisten. „Wir haben die Haushaltsanträge aller Fraktionen ins Internet gestellt“, sagt der Fraktionsmitarbeiter Beier. Um die Gemeinderatsarbeit noch transparenter zu machen, arbeite man daran, das Abstimmungsverhalten jedes einzelnen Stadtrats aufzulisten. Im Netz und bei den regelmäßigen Stammtischen werden die kommunalpolitischen Themen intensiv diskutiert. Für die Piraten ist das Feld der Kommunalpolitik inzwischen von entscheidender Bedeutung. „Ohne diese Verankerung haben wir als Partei keine Chance zu wachsen“, sagt Freche. Wachsen wäre bitter nötig: Nach dem Hoch im Jahr 2012 zählt die Kreispartei nach einer Karteibereinigung mittlerweile nur noch 25 Mitglieder.

In Bezug auf Stähle haben sich viele Piraten übrigens längst eine eigene Meinung gebildet. „Man muss die Frage stellen, ob er nicht absichtlich zum Buhmann gemacht wurde“, sagt Johannes Haux, der für die Piraten im Bezirksbeirat Jebenhausen sitzt.

Nach der Wahl segeln die Piraten nach links

Bei den baden-württembergischen Kommunalwahlen im Mai 2014 sind die Piraten nur in wenigen Orten angetreten. Sie holten landesweit 0,5 Prozent der Stimmen und errangen 16 Mandate. In der Region Stuttgart konnten sie in Stuttgart, Leinfelden-Echterdingen und Frickenhausen (beide Kreis Esslingen) in die Gemeinderäte einziehen.

In Göppingen holten die Piraten mit einer Liste mit sieben Namen 1,7 Prozent, was dank des neuen Auszählverfahrens für einen Sitz reichte. Nachdem der Erstplatzierte wegen eines Umzugs verzichtete, rückte Michael Freche nach. Der 46-Jährige hat eine Handelsvertretung für industrielle Reinigungsanlagen.

Meist arbeiten die Piraten mit der Linken zusammen, so auch im Regionalparlament und im Kreistag von Böblingen, wo sie jeweils einen Sitz halten. In Stuttgart haben sie sich der linken, Stuttgart-21-kritischen SÖS angeschlossen. In Frickenhausen und Leinfelden versuchen sie sich als Einzelkämpfer.