Die Piratenpartei ist nach dem Wahlerfolg in Berlin plötzlich eine Größe. Das verleiht auch den Mitgliedern in Stuttgart Rückenwind.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Thea Bracht (tab)

Stuttgart - Im Stuttgarter Osten trifft digital auf rustikal. Menschen in schwarzen T-Shirts und Kapuzenpullis drängen in die Trattoria Krone, klappen ihre Laptops auf, lachen, feixen – und können über das Wahlergebnis in Berlin nur staunen. Mit knapp neun Prozent hatte kein Stuttgarter Pirat ernsthaft gerechnet. „Wir brauchen kein Projekt 18, um auf 1,8 Prozent zu kommen!“, stichelt der Pressesprecher Martin Eitzenberger gegen den Lieblingsgegner FDP. Bei der Montagsdemo hätten die Gratulanten Schlange gestanden, erzählt ein Mitglied, und Sebastian twittert begeistert: „Stammtisch Stuttgart überfüllt und Fernsehteam + andere Journalisten da, danke Berlin.“ In einem Punkt sind sich alle einig: Vor allem wegen des ausgeprägten Lagerwahlkampfes habe die Partei bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg nur 2,1 Prozent erzielt.

 

Etwa 20 Parteimitglieder und Sympathisanten treffen sich alle zwei Wochen in dem italienischen Lokal im Stuttgarter Osten, um über Politik zu debattieren, Aktionen in der Region zu planen und sich auch einmal real gegenüberzusitzen. An diesem Montag ist die Runde größer als gewöhnlich. Ein Fernsehteam und sogar eine koreanische Journalistin interessieren sich für die Aufsteigerpartei. Die meisten Stammtischbesucher sind unter 30 und männlich.

Volksentscheid sehen die Piraten als "historische Chance"

Ein 48-jährige Entwicklungsleiter aus Sindelfingen schaut zum ersten Mal vorbei und will herausfinden, „wie das hier so funktioniert“. Am 27. März hat er die Piraten nicht gewählt, weil er nicht an ihren Einzug in den Landtag glaubte. Angesichts der Umfragewerte in Berlin beschloss er vor zwei Wochen, aktiv zu werden. Sympathisierte er früher mit der FDP, ärgert er sich heute über „die gnadenlose Klientelpolitik, die die betrieben haben“. Zwei andere Neulinge nicken. Der Entwicklungsleiter lobt den Bürgerrechtsansatz der Piratenpartei und die pragmatische Haltung zu Stuttgart 21. Die Mehrheit der Piraten lehnt das Milliardenprojekt ab, wie eine interne Umfrage ergab.

Doch mehr als der Bahnhof selbst bewegt die Piraten der geplante Volksentscheid. „Das ist eine historische Chance, mehr Bürgerbeteiligung herbeizuführen“, sagt Martin Eitzenberger. Ob es um die Gründung eines Stuttgarter Kreisverbandes oder die OB-Wahl 2012 geht – die Piraten wollen zeigen, dass sie mehr können als Internet. „Wir sind keine Einthemenpartei, keine Eintagsfliege“, betont der Pressesprecher.

Die Piraten versuchen, ihr Themenfeld nach und nach zu erweitern. Ganz basisdemokratisch soll es dabei zugehen. Wie mühsam sich das mitunter gestaltet, wird auch an diesem Abend deutlich. Eitzenberger versucht, die Tagesordnung zügig abzuhaken. Aber der 28-jährige Softwareentwickler muss immer wieder auf Zwischenrufe reagieren oder „Ravioli für die Julia“ weiterreichen. „Ich sehe, die Bestellungen über Twitter funktionieren“, witzelt er. „Welcher Hashtag?“, ruft jemand dazwischen. Es geht zu wie in einer großen WG-Küche. Dass jeder redet, wie und wann er will, stößt jedoch nicht bei allen auf Begeisterung. „Langsam, langsam“, beschwert sich ein Teilnehmer, „jetzt muss mal jemand die Versammlungsleitung übernehmen, der darf aber nicht mitdiskutieren.“ Auch der Entwicklungsleiter aus Sindelfingen meint, den Piraten könne ein bisschen mehr Professionalität nicht schaden. Wiederkommen will er trotzdem.