Die Schallplatte ist wieder im Aufwind. Das lässt sich messen und auch die Stuttgarter Plattenläden können als legale Abgabestelle für die Droge Musik nicht klagen. Zwei von ihnen werden dieses Jahr dreißig Jahre alt. Besuch in einer Szene voller Musikverrückter.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Wie viele Schallplatten er in seinem Reich anbietet, kann Rainer Rupp nur schätzen: Grob 90 000 stehen im Laden in der Leuschnerstraße herum. Ein Stockwerk tiefer sind, wie Rupp sagt, „noch ein paarmal so viele gebunkert“. Säuberlich geordnet nach Stilrichtung und Name des Interpreten lagern in den Regalen die gebrauchten Schätze aus vielen Jahrzehnten. Etwa die Aufnahmen, die Elvis Presley in den Sun Studios eingespielt hat: Rücken an Rücken, die eine Hülle perfekt erhalten, die andere mit Macken, wartet das Album gleich dutzendweise auf Käufer. „Das kommt schon weg“, sagt der 47-jährige Rupp, der selbstbewusst von sich behauptet, mit seinem Geschäft in der Weltliga der Plattenläden mitzuspielen. Second Hand Records hat Stammkunden weltweit, etliche Asiaten zum Beispiel kämen wegen der Jazz-Auswahl.

 

Dem ersten Untergeschoss folgt ein zweites. Zwischen den Regalen stehen 40 Umzugskartons: die Sammlung eines Freiburger DJs. Am Vormittag hat Rupps Mitarbeiter Michael Paukner, 45, die Kisten abgeholt. Alltag sei es, solche Mengen an Schallplatten anzukaufen, sagt Paukner. Die bisher größte Lieferung wurde mit zwei Lastwagen geliefert. Wer in einem Plattenladen arbeitet, muss schleppen können.

Rainer Rupp und seine drei hauptberuflichen Mitarbeiter behaupten von sich, alle Schallplatten gehört zu haben, die sie zum Verkauf anbieten. Inventarlisten führen sie nicht. Die Musik, die auf drei geräumige Stockwerke verteilt ist, erfassen sie allein in ihren Köpfen.

Die Schallplatte schien am Ende

Es ist nicht lange her, da schien die Schallplatte am Ende. In den 80er Jahren hatte sich die Industrie auf die CD als Trägermedium für Musik festgelegt, Vinyl-Veröffentlichungen wurden seltener, die Qualität schlechter. „Sie ist in Gefahr“, rappte die Stuttgarter Gruppe Massive Töne 1995 über das aussterbende Medium Schallplatte. Allein eine vergleichsweise kleine, eingeschworene Fangemeinde wollte sich damit nicht abfinden: eine Art gallisches Dorf, über die Welt verstreut, spielte einfach weiterhin Platten.

Mittlerweile wächst das Dorf sprunghaft. Musikfans jeden Alters kaufen sich wieder Plattenspieler. Auf Flohmärkten erwerben Teenager Scheiben, die ihre Eltern einst gehört haben. Die Älteren lösen ihre CD-Sammlung auf und wechseln zurück zur Schallplatte. Stars ebenso wie Newcomer veröffentlichen ihre Alben auch oder ausschließlich auf Vinyl. Deren Käufer wiederum schwärmen vom natürlichen, „warmen“ Klang der Platte und schimpfen auf die digitale Seelenlosigkeit von CDs und Downloads. Die Musikzeitschrift „Visions“ feierte kürzlich mit einer Sonderausgabe die Rückkehr der Schallplatte und ihre „neue Stärke“.

Die Zahlen zum Vinyl-Revival

Das Vinyl-Revival lässt sich mit Zahlen belegen: Der Bundesverband Musikindustrie berichtet, dass 2013 in Deutschland 1,4 Millionen Schallplatten verkauft wurden – nach nur 200 000 Stück im Jahr 1996. Der Umsatz mit LPs betrug im vergangenen Jahr 29 Millionen Euro – 2006 waren es gerade einmal sechs Millionen. Viele Alben der neunziger und Nullerjahre, die seinerzeit nicht oder nur in Kleinstauflage auf Vinyl veröffentlicht wurden, kommen jetzt neu heraus. Der amerikanische Branchenriese Universal Music hat sogar ein eigenes Label für solche Wiederveröffentlichungen.

Die Verfilmung von Nick Hornbys Roman „High Fidelity“, die 2000 in die Kinos kam, leitete die Trendwende ein. Regisseur Stephen Frears, Jahrgang 1941, huldigt mit der Komödie dem Mikrokosmos Plattenladen und seinen schrulligen Bewohnern: sozial teils schwer verträgliche Leute, die ein lexikalisches Wissen über Schallplatten besitzen. Nerds eben – und auch: eine liebenswürdige Spezies. Die Kernaussage des Spielfilms lautet: Plattenläden sind die Abgabestelle für die legale Droge Musik, der Plattenhändler ist der Dealer und selbst hochgradig süchtig.

Deutschlandweit führt die Internetseite recordshops.org 349 Plattenläden auf, für Stuttgart werden sieben Treffer angezeigt. Legendäre Branchengrößen wie die Lerche, Radio Barth oder WOM haben längst dichtgemacht. Dafür tauchen in der Liste kleinere Urgesteine wie Ratzer Records und Second Hand Records auf sowie Nischenanbieter wie der auf Punk und Hardcore spezialisierte Laden Cheap Trash Records oder Pauls Musique mit einem Schwerpunkt auf elektronische Musik.

Die folgende Karte zeigt die Stuttgarter Plattenläden. Mit einem Klick auf den Marker erhalten Sie weitere Infos. 

Thomas, genannt „Tommes“, Waldhof fehlt auf der Internetseite, obwohl er schon seit 1991 Platten verkauft – seit 2005 in der Olgastraße. Manchmal ist Waldhof, der sein Alter mit Anfang 50 angibt, dort den lieben langen  Tag allein mit seinen vielen Tausend schwarzen runden Freunden. Sie liegen in Kisten, auf dem Boden, in Wandregalen, ja wirklich überall herum. Platten aus der Independent-Szene, Erstpressungen alter Jazzaufnahmen, Raritäten der Neuen Musik. Die teuersten Exemplare kosten 2000 Euro. Ein Teil seiner exquisiten Sammlung hat Thomas Waldhof in seine Wohnung ausgelagert. „Ich lebe quasi mit meinen Platten“, sagt er.

Den Mainstream mag er nicht. „Queen, Pink Floyd oder so habe ich natürlich da“, sagt er – aber nur, weil Klassiker des Rock immer gefragt sind. Viel lieber jedoch verkaufe er „die Sachen, hinter denen ich stehe“. Zum Beispiel? Seine Lieblingsgruppen aufzuzählen mache wenig Sinn, antwortet Waldhof: „Die kennt eh keiner.“ Außer natürlich den Fachkundigen, die regelmäßig in Waldhofs Laden kommen. Seine Stammkunden bleiben schon mal vier oder fünf Stunden, um den Klängen zu lauschen, die entstehen, wenn die Schwingungen einer Diamantnadel in elektrische Ströme umgewandelt werden. „Für die ist das hier Therapie.“

Was die Faszination Vinyl ausmacht

Was macht diese Faszination aus? Der Grafikdesigner und Plattenenthusiast Marc Olbrich hat kürzlich in der Galerie Oberwelt im Stuttgarter Westen eine Vinyl-Ausstellung konzeptioniert. Er schwärmt vom „taktilen Auflegen“ einer Schallplatte: Man muss sie erst aus dem Pappkarton holen, dann aus der dünnen weißen Schutzhülle, anschließend den Plattenspieler anschalten und die Nadel zur äußersten Rille führen. Eine geradezu sinnliche Erfahrung. „Außerdem erzeugen Platten beim Abspielen minimale Verzerrungen, die für das menschliche Ohr angenehm klingen.“

Unter den Plattenhörern finden sich viele Hi-Fi-Fanatiker, die extreme Summen in Röhrenverstärker, Lautsprecher mit Keramikmembranen und vergoldete Kabel investieren. Diese Musikgourmets schimpfen auf die Massen von modernen Banausen, die sich digital komprimierte und entsprechend schlecht klingende Musik aus dem Internet herunterladen. Plattenfans verehren die analoge Technik. Und wenn sie einmal einen Händler ihres Vertrauens gefunden haben, bleiben sie ihm treu.

Wie man neue Kunden gewinnt

Die Stammkundschaft ist auch in jener Zeit gekommen, als es Vinyl schlecht ging. Doch die Plattenhändler müssen ja auch neues Publikum anzulocken. Michael Paukner von Second Hand Records beispielsweise macht bei DJ-Auftritten in Stuttgart Werbung für seine Lieblingsmusik – und für seinen Arbeitgeber. In dem Laden finden regelmäßig Konzerte regionaler Künstler statt, oft pünktlich zur Veröffentlichung des aktuellen (Vinyl-)Albums. Außerdem unterstützt Second Hand Records junge Bands und Musikprojekte: zum einen aus purer Liebe zur Musik, aber auch zur Selbstvermarktung, denn die alternative Szene bedankt sich für das Engagement mit regelmäßigen Besuchen. Wenn Second Hand Records von Freitag an eineinhalb Wochen lang sein 30-jähriges Bestehen feiert, dürfte der Laden wieder rappelvoll sein. So wie beim Record Store Day, dem auch in Stuttgart einmal im Jahr begangenen Tag der unabhängigen kleinen Plattenläden.

Auch Ratzer Records wird 30. Seit dem Umzug in die Hauptstätter Straße vor zweieinhalb Jahren hat das Eigentümerpaar Karl-Heinz und Brigitte Ratzer keinen simplen Plattenladen mehr, sondern ein Plattencafé. Es gibt ein paar Tischchen, morgens ein Frühstück und abends kühles Bier. Freitags finden regelmäßig Konzerte statt. Kurzum: es wird immer etwas geboten.

Vinyl macht die MP3-Industrie kaputt

Der Eventcharakter eines Plattenladens sei auch deshalb wichtig, weil „die Jungen sich nicht so gern beraten lassen“, sagt Tobias Ettle von Pauls Musique am Österreichischen Platz: „Die kaufen viel übers Internet.“ Beim Besuch an einem warmen Frühsommerabend kurz vor 20 Uhr herrscht in und um das kleine Geschäft gelöste Stimmung. Ein DJ hört Platten durch, zwei Baseballkappen-Typen prosten sich mit Bierflaschen zu – und Ettle erklärt grinsend, dass sein Laden gut laufe. „Das Vinyl erlebt zurzeit einen medialen Hype“, sagt der 43 Jahre alte gelernte Journalist. Es gelte als hip, Schallplatten zu hören. Deshalb würden zunehmend auch jüngere Hörer in seinen Laden kommen. „Wichtig ist die Innenstadtlage“, sagt Ettle, der seine Ware wie Kunst ausstellt, „manche Kunden schauen schon das Plattencover verträumt an.“

Die Schallplatte ist ein klangliches, haptisches und optisches Erlebnis. Sie ist im wahren Sinne hochwertig:. Die Scheibe aus Vinylchlorid gibt der Musik einen Wert, den sie in der neuen, digitalen Zeit verloren zu haben scheint. „Vinyl kills the MP3 industry“ steht auf einer der Schutzhüllen für Plattenspieler, die Tobias Ettle prominent in seinen Laden gestellt hat: Die Schallplatte macht die MP3-Industrie kaputt. An Orten wie diesem ist dieser Spruch wahr.