Onlinehandel und Einkaufszentren verdrängen traditionelle Fachgeschäfte. Über die Folgen dieser Entwicklung haben am Montagabend auf Einladung der Stuttgarter Zeitung und Roland Berger Experten aus Wirtschaft und Politik diskutiert.

Wissen/Gesundheit: Werner Ludwig (lud)

Stuttgart - Der Internethandel boomt. Bereits jeden zehnten Euro geben deutsche Verbraucher im Online- und Versandhandel aus – mit weiterhin steigender Tendenz. Manche läuten deshalb bereits das Totenglöckchen für den stationären Einzelhandel. Willy Oergel gehört nicht dazu. „Stationärer Handel hat weiter Zukunft“, sagte der Chef des Stuttgarter Traditionskaufhauses Breuninger am Montagabend bei der Podiumsdiskussion „Brennpunkt Handel – Wie die Branche in Geschäften und im Internet um die Kunden kämpft“. Zu der neunten Veranstaltung in der Reihe „Die Zukunft der Region“ hatten die Stuttgarter Zeitung und Roland Berger Strategy Consultants in die Alte Reithalle Stuttgart eingeladen.

 

„Wir sehen die Digitalisierung nicht als Bedrohung, sondern als Chance“ sagte Oergel. Tatsächlich wachse der Breuninger-Umsatz im Internet deutlich schneller als in den Filialen. Konkrete Zahlen nannte der Manager aber nicht. Parallel zur Online-Strategie investiere Breuninger jedoch weiterhin „in Beton“, wie es StZ-Chefredakteur Joachim Dorfs ausdrückte, der die Diskussion moderierte. Beispiele dafür sind das Engagement von Breuninger im Dorotheenquartier und die Investitionen in Düsseldorf und andere Standorte. Oergel räumte aber auch ein, dass die neuen Einkaufstempel Gerber und Milaneo zu einem „Frequenzverlust“ bei Breuninger in Ludwigsburg und Sindelfingen geführt hätten – also zu einem Rückgang der Kundenzahl. Man müsse aber sehen, wie sich das weiterentwickelt, wenn die erste Neugier auf Gerber und Milaneo wieder etwas nachlässt. Um die neu hinzugekommenen Flächen auszulasten, sei ein zusätzlicher Umsatz von 400 Millionen Euro nötig. Oergel ist aber überzeugt, „dass es die attraktiven Standorte schaffen werden“. Stuttgart ist für ihn „die Einkaufsstadt Nummer eins“. Verlierer seien dagegen die B-Lagen, sagte Björn Bloching von der Unternehmensberatung Roland Berger.

Beim Thema Verkehr habe Stuttgart aber Nachholbedarf, meinte Oergel und betonte auch die Bedeutung des Individualverkehrs. Es sei nun mal Tatsache, dass die meisten Kunden von außerhalb mit dem Auto in die Stadt kommen.

Potenziale bei der Nutzung neuer Technologien

„Das Kernziel einer attraktiven Innenstadt ist über mehr Autos nicht erreichbar“, widersprach Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn und verwies unter anderem auf das Feinstaubproblem. Gleichzeitig räumte er ein, dass in Stuttgart ein funktionierendes Parkleitsystem fehlt, mit dem sich der Suchverkehr verringern lasse. Kuhns Idealvorstellung: Die Stuttgarter fahren mit der Stadtbahn zum Einkaufen, dann gebe es mehr Platz für die Einkaufspendler, die von weiter weg mit dem Auto in die Stadt kommen.

Während Breuninger mit seinen Kaufhäusern und im Internet präsent ist, geht René Köhler einen anderen Weg. Der Gründer der Esslinger Holding Internetstores, zu dem der größte deutsche Online-Fahrradschop fahrrad.de gehört, setzt konsequent nur auf das Internet als Absatzkanal. Ein junges Unternehmen wie das seine habe gar nicht die Möglichkeit, gleichzeitig stationäre Geschäfte zu eröffnen, sagte der 32-Jährige, der das Gymnasium bereits in der zehnten Klasse verlassen hat. „Auf der Basis neuer Filialen sind Wachstumsraten wie bei fahrrad.de gar nicht möglich“, sagt Köhler. In diesem Jahr soll der Umsatz von Internetstores erneut um rund 30 Prozent auf 120 Millionen Euro steigen.

Bloching hält es zu früh „für einen Abgesang auf den stationären Handel“. Er verweist auf erfolgreiche Neugründungen wie Butlers. Er sieht zwar große Potenziale in der Nutzung neuer IT-Technologien (Stichwort: „Big Data“) zur Kundenbindung – etwa in Smartphones, die den Kunden auf die Angebote der nächstgelegenen Geschäfte aufmerksam machen. Doch er sieht auch Nachholbedarf sowie Chancen im Kerngeschäft von Läden und Ketten. „Der Handel leidet vor allem an sich selbst“, so der Experte. Viele Geschäfte hätten zu wenig in Beratung investiert, entsprechend unzufrieden seien oft die Kunden. „Manche Händler haben versucht, wie die Onliner zu werden und die Kosten um jeden Preis gedrückt“, kritisierte Bloching, der auch künftig noch gerne in einem stationären Laden einkaufen will.

Fritz Kuhn fragte angesichts des Online-Hypes, ob man wenigstens den Stuttgarter Wochenmarkt so lassen könne, wie er ist. „Oder müssen wir damit auch bald online gehen?“ fragte der OB und erhielt dafür kräftigen Applaus aus dem Publikum. Auch der Online-Pionier Köhler glaubt nicht, dass der stationäre Handel ganz verschwinden wird. „Ich gehe gerne in die Städte, schaue mir die Angebote an – und kaufe manchmal auch etwas.“ Dennoch stellt er sich für die Zukunft einen Umsatzmix vor, der vielen traditionellen Geschäften nicht gefallen dürfte. „In fünf Jahren könnten sich die Umsätze im Online- und Offline-Handel ungefähr 50 zu 50 verteilen“, hofft der Unternehmer.