Sensoren können die Wohnungen von Senioren überwachen und bei einem Sturz Hilfe holen. Wie solche Hilfssysteme funktionieren und wie sinnvoll sie sind, diskutieren am Freitag im Pressehaus Stuttgart zwei Experten mit allen Interessierten.

Stuttgart - Arne Manzeschke sieht moderne Gesellschaften in Ländern wie Deutschland vor einem „gravierenden moralischen Problem“. Er hält es für an der Zeit, zwei Fragen neu zu stellen: „Wie wollen wir zusammenleben? Und wie wollen wir, dass mit alten Menschen umgegangen wird?“ Manzeschke, der vom Datenverarbeitungsingenieur bei Siemens zum Theologen und Philosophen geworden ist, analysiert kühl: „Wir haben eine Gesellschaft aufgebaut, in der versucht wird, alle Menschen in Arbeit zu bringen und an der Wohlstandsproduktion zu beteiligen. Wenn ein Mensch nicht mehr teilhat an dieser Wohlstandsproduktion, dann müssen wir ihn teuer versorgen, denn alles in der Gesellschaft ist auf die Wohlstandsproduktion ausgerichtet.“ Und er fragt, ob das nicht anders, ethisch befriedigender geht.

 

Von diesem im Grundsatz kritischen Standpunkt aus betrachtet er mit pragmatischem Blick Versuche, alte Menschen mit Hilfe der Technik in ihrem Leben zu unterstützen. Manzeschke, Jahrgang 1962, ist Privatdozent am Institut Technik-Theologie-Naturwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dort forscht er und berät die evangelische Kirche unter anderem in bioethischen Fragen. Manzeschke hat sich viel mit dem beschäftigt, was manchmal „Ambient Assisted Living“ (AAL) oder deutsch „altersgerechte Assistenzsysteme“ genannt wird. Im vergangenen Jahr hat er dazu im Auftrag des Bundesforschungsministeriums eine Studie angefertigt. Er hat Lehraufträge an verschiedenen Hochschulen und berät Ingenieure in Fragen von Technik und Ethik.

Die Forscher sehen auch Risiken

Aus ihrer Arbeit kennen sich Arne Manzeschke und Marius Pflüger. Beide beschäftigen sich mit AAL, beide kennen die Technik, beide denken über ethische Aspekte nach. Doch sie kommen von unterschiedlichen Seiten: Marius Pflüger, 32, hat an der Universität Stuttgart technische Kybernetik studiert und arbeitet und forscht am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) in Stuttgart. Dort leitet er seit einem halben Jahr eine Gruppe in der Abteilung „Bild und Signalverarbeitung“. Pflüger und seine Kollegen werden auf dem Ausstellungsschiff MS Wissenschaft in einer praktischen Anwendung zeigen, wie eine technischen Zusatzausstattung der Wohnung alten Menschen helfen kann.

Parallel zu dieser Ausstellung hat die StZ die beiden Forscher zu einer Podiumsdiskussion ins Pressehaus Stuttgart eingeladen, in der die technischen Möglichkeiten altersgerechter Assistenzsysteme und deren menschlich-ethische Auswirkungen besprochen werden. Alle Leserinnen und Leser sind herzlich zu dieser kostenlosen Runde eingeladen (siehe Details auf der nächsten Seite). Ausgangspunkt der Diskussion wird das Exponat des IPA sein. Pflüger bezeichnet es als Demonstrator, denn anbieten will es eine Partnerfirma erst gegen Ende des Jahres.

Die Technik ist aus Pflügers Forschung hervorgegangen, der Bild- und Signalverarbeitung. Die Idee des Projektes mit dem Namen Sens@Home: in der Wohnung alter Menschen werden Sensoren montiert, die die Räume im Blick haben – an der Zimmerdecke oder an anderen erhöhten Punkten. Die Sensoren beobachten nicht den Alltag der Bewohner, sondern sie sind darauf spezialisiert zu reagieren, wenn ein Bewohner zu Boden fällt und dort liegen bleibt. Der schnelle Fall und das anschließende Liegenbleiben wird als Notsituation analysiert. Das System kann nun, je nach individueller Einstellung, erst einmal andere Personen in der Wohnung alarmieren, Nachbarn, Angehörige, Freunde und letztlich einen Hilfsdienst. „Das Gerät soll seinen Dienst unauffällig tun wie ein Rauchmelder“, sagt Pflüger. „Das war unser Ziel.“

Das Notfallsystem wird am Freitag vorgeführt

In der Ausstellung haben die IPA-Forscher ihr Notfallsystem durch einen zusätzlichen Effekt angereichert: Wenn ein Ausstellungsbesucher auf einer bereitliegenden Matte einen Sturz simuliert, soll ein Roboter in der Größe eines Staubsaugers herbeieilen und eine Notfall-Kommunikation über einen Tablet-Computer anbieten. Damit will Pflüger aber nicht sagen, dass diese Kombination in der Praxis so eingesetzt wird. Das System – ohne Roboter – wird derzeit in Räumen der Bruderhaus-Diakonie getestet. Pflüger schätzt, dass in der Praxis eine Wohnung mit rund 60 Quadratmetern, in denen ein Mensch wohnt, mit fünf bis sieben Sensoren ausgestattet werden müsste, damit es keine toten Winkel gibt. Derzeit ist er mit seinen Kollegen dabei, das System zu optimieren. Ein Ziel ist die Interoperabilität, also die Verknüpfbarkeit mit technischen Hilfesystemen anderer Hersteller. Außerdem arbeiten die Forscher an Detailverbesserungen. So könnte zum Beispiel ein Mensch, der einen Rollator benutzt, nach einem Sturz hinter dem Rollator verdeckt sein. Ein weiteres Ziel ist herauszufinden, wie Assistenzsysteme individuell angepasst werden müssen, etwa an den Gesundheitszustand der Bewohner (Herz-Kreislauf-Probleme), oder an ihre Lebensbedingungen (Stadt oder Land).

Wie weit kann Technik alte Menschen unterstützen, wie weit sollte sie es? Pflüger sieht als Anwendungsbereiche nicht nur die Notfallhilfe, sondern auch die Verbesserung des Wohnkomforts, etwa durch eine Sprachsteuerung für Fenster-Rollläden. Aber Pflüger sieht auch Gefahren. Angehörige und Pflegekräfte könnten sich sagen: In die Wohnung muss ich nicht mehr so oft fahren, da gibt es ja ein Warnsystem. Wo es etwa Videotelefonie gibt, könnte sich mancher den persönlichen Besuch bei Eltern oder Großeltern ersparen.

Zwei Visionen einer idealen Welt

Im praktischen Einsatz hat Pflüger gute Erfahrungen gemacht. „Die meisten alten Leute hatten wenig Berührungsängste.“ Interessenten wurden ins Labor eingeladen; Sensoren wurden mit ihrem Einverständnis installiert. Ein ethisches Problem sieht Pflüger bei Menschen, die nicht mehr verstehen, was ihnen da angeboten wird. Er stellt sich den „Wunschzustand“ so vor: In einem betreuten Heim hat dank des Sensors „das Personal Zeit, nicht ständig Rundgänge zu machen, sondern sich um einzelne Menschen länger zu kümmern“.

Auf der MS Wissenschaft wird die Diskussion sicher auch auf diesen Punkt kommen. Arne Manzeschke kann grundsätzlich der technischen Unterstützung im Alter etwas abgewinnen. Der Pflege- und Versorgungsbedarf werde generell steigen und immer schwerer zu finanzieren sein, sagt er. Hinzu komme, dass „ganz viele Ältere alleine leben und lieber in der eigenen Wohnung bleiben wollen“. Solange sie das können, ist das auch für die Gesellschaft billiger. „Das legt also nahe, die Leute zu Hause zu versorgen und die Technik zu nutzen, weil wir die Betreuer nicht haben.“ Bei vielen Alten komme das sogar an. Sich technische Hilfe zu holen „ist weniger von Scham besetzt“, da die Alten weniger von anderen Menschen abhängig seien.

Doch auch Manzeschke beschreibt einen Wunschzustand: Wenn eine Arbeitsgesellschaft immer höhere Kosten für die Pflege aufbringen muss, dann könnte es aus finanziellen und ethischen Gründen eine Alternative sein, „weniger zu arbeiten und mehr Zeit füreinander zu haben“. Ihn faszinieren alte Klöster, wo „die Alten bis zum Schluss ihres Lebens Aufgaben haben“. Und er fragt: „Was bedeutet es, wenn eine Gesellschaft sagt, ab 65 brauchen wir dich nicht mehr?“ Hoffnung machen ihm Tendenzen in der jüngeren Generation, für die ein Arbeitsplatz als Lebenssinn kaum noch erreichbar ist. „Sie sagen: arbeiten, ja, Rente auch, aber ich möchte neben der Arbeit auch ein Leben haben.“

Geänderte Einladung zur Podiumsdiskussion

Diskussionsrunde
„Oma allein zu Hause – macht Technik ihr Leben sicherer?“ lautet der Titel eines Gesprächsabends, zu dem die Stuttgarter Zeitung und das Stuttgarter Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung alle Interessierten herzlich einladen. Zwei Experten diskutieren mit dem Publikum darüber, ob technische Systeme den Alltag erleichtern können. Moderiert wird die Runde vom StZ-Politikredakteur Michael Trauthig.

Zeit und Ort
Freitag, 12. Juli, um 18 Uhr. Ursprünglich war die Diskussionsrunde auf dem Ausstellungsschiff „MS Wissenschaft“ vorgesehen, doch sie muss nun wegen eines Streiks der Beschäftigten der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung ins Pressehaus Stuttgart, Plieninger Straße 150 in Stuttgart-Möhringen verlegt werden. Der Eintritt ist frei. Eine Anfahrtbeschreibung finden Sie hier.

Ausstellungsschiff
Die „MS Wissenschaft“ liegt bis zum 10. Juli in Heidelberg und fährt dann für einige Tage nach Lauffen am Neckar. Eine Ausstellung zeigt dort, wie sich der demografische Wandel auf die Gesellschaft auswirkt. Dazu gehört das Exponat Sens@Home: Sensoren überwachen Wohnräume und rufen Hilfe, wenn ein Bewohner stürzt.