Der Kirchheimer Pierre Jarawan und der Ludwigsburger Hanz verdienen ihr Geld als reisende Poeten. Am Freitagabend treten sie in Kirchheim/Teck auf.

Stuttgart - Die Hände wandern. Pierre Jarawan vergräbt sie in den Hosentaschen, fährt sie über den Oberkörper, verschränkt sie hinterm Kopf. Sein zerknittertes T-Shirt rutscht hoch und räumt den Blick frei auf helle Boxershorts. Die Menschen in der Stadthalle Heidelberg starren ihn an. „Okay“, sagt der Moderator, der ein paar Meter neben Jarawan steht, „wir haben eine unglaublich knappe Entscheidung.“ Kurz darauf bricht das Publikum in Jubel aus: Pierre Jarawan ist deutschsprachiger Meister im Poetry-Slam 2012.

 

Hinter dem Begriff Poetry-Slam verbirgt sich ein gepfefferter Dichterwettstreit. Es reicht nicht, mit dem geschriebenen Wort zu jonglieren. Der Poet muss seinen Text auch charmant vortragen, er muss das überwiegend gebildete Publikum erobern, das danach giert, unterhalten und verzaubert zu werden, im besten Fall gleichzeitig. Bühnen dafür gibt es immer mehr, 150 bis 200 junge deutsche Dichter reisen regelmäßig zwischen Alpen und Nordsee hin und her. Zwischen 30 und 40 von ihnen sind so gut und so mutig, dass sie damit ihren Lebensunterhalt finanzieren.

Melancholische Träumerin mit der Wollmütze

Beim Poetry-Slam treten Charaktere ins Scheinwerferlicht, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Da ist die melancholische Träumerin mit der Wollmütze, die es im schmutzigen Berlin nicht aushielt und nach Marburg flüchtete: Sie flüstert Wortmonstren in die Welt, bis der Lauschende vor Schwindel taumelt. Oder da ist der schwankende Zottelkopf von verratzter Gestalt, der wie eine bekiffte Version des Filmstars Johnny Depp brüllt, tobt und zappelt. Was die Freigeister verbindet, ist das Schreiben und das Vortragen. Es formt Freundschaften, die sonst nie entstünden. „Wir sind eine große Zirkusfamilie“, sagt Jarawan.

Der 1985 in Amman geborene und in Kirchheim/Teck aufgewachsene Poet ist ein Leisetreter. Die Worte stehlen seiner Show die Show. Pierre Jarawan rollt höchstens mal die Augen, seufzt und kichert, wenn eine Textstelle besondere Aufmerksamkeit verlangt. Primär rezitiert er. Einzig die Hände sind beim Vortragen ständig in Bewegung, sie schweben vor seinem Körper, die Finger mal gespreizt, dann aneinandergepresst oder einen von ihnen in die Höhe gestreckt.

Authentizität ist im Poetry-Slam wichtig. Kunstfiguren gibt es kaum, viele Texte sind sehr persönlich, und der Autor trägt immer ein Stück seines Lebens auf die Bühne. Die Ich-Form, in der Jarawan schreibt, charakterisiert ihn als „selbstironischen Außenseiter“. So formuliert er es selbst – und sagt: „Es steckt viel von meinem Wesen in den Texten, mehr, als man glaubt, aber weniger, als man befürchtet.“ Er tänzelt auf einem schmalen Grat zwischen Tiefgründigem und Humorvollem. Er verliert selten das Gleichgewicht.

Im Finale erzählt er von der Fantasie, die an der Vernunft zerbricht, von einer Bibliothek am Ufer eines Flusses aus Marmelade und landet Sekunden später bei Batmans überdimensionierten Brustwarzen. Das Publikum hört ehrfürchtig zu und lacht an den vorgesehenen Stellen. Alles läuft für ihn.

Hanz und Jarawan

Einer derer, die lauschen und lachen, ist sein Wegbegleiter, der Ludwigsburger Hanz. Eigentlich selbst Finalkandidat, hat Hanz im Einzel auf einen Start verzichtet. Er tritt nur im Teamwettbewerb auf und scheitert dort vorzeitig. „Pierres Erfolg freut mich extrem“, sagt er am Ende.

Hanz’ und Pierre Jarawans Wege kreuzen sich erstmals 2009 in Stuttgart. Beide stehen auf der Bühne, der ein Jahr ältere Hanz als etablierter Poet, Jarawan als Debütant. Hinterher schreibt der eine dem anderen eine E-Mail mit der Bitte um Tipps für weitere Auftritte in der Region. Der Konkurrent antwortet sofort und wird zum Freund. „Hanz ist ein lustiger Kerl“, sagt Jarawan.

Pinguindieb in der Wilhelma

Das spiegelt sich auf der Bühne wider. Wenn Hanz in einem seiner Texte über den Neid auf einen jugendlichen Pinguindieb in der Wilhelma und über mögliche Chancen des Klimawandels bei der Abschaffung der Jahreszeiten reflektiert, johlt das Publikum. Hanz rast durch die Zeilen. Seine Stimme ist sein Kapital, mal röhrt er rauchig ins Mikro, dann quiekt er sich ans andere Ende der Tonleiter.

So etwas geht an die Substanz, erst recht in Kombination mit dem Drumherum: dem Freibier bei den Auftritten, den Partys danach. „Ein Jahr exzessives Slammen kostet dich drei Jahre Lebenszeit“, sagt Hanz und kann doch nicht ohne, will nicht ohne. Es hat einen Grund, warum sein Buch mit Bonus-CD „In fremden Betten schläft es sich doch am besten“ heißt. Es hat einen Grund, warum sein Lehramtsstudium an der PH Ludwigsburg auf Eis liegt. „Die Lehrersache“, sagt er, „ist durch.“

Hanz verharrt nicht, er tourt. Nicht nur als Teilnehmer, auch als Dozent oder Veranstalter in Ludwigsburg, Eichstätt, Künzelsau, Aalen und Crailsheim. In weniger als fünf Jahren hat er es auf mehr als 500 Auftritte zwischen Sylt und Wien gebracht. Ein Ende? Nicht in Sicht. „Als Schreibender hast du ein Geltungsbedürfnis“, glaubt Hanz, „und ein direkteres Konzept als den Poetry-Slam für eine Rückmeldung von deinem Publikum gibt es nicht.“ Deswegen schreibt er weiter, deswegen tourt er weiter. Termine plant er zwei bis vier Monate im Voraus. Und sofern ihm sein Arzt keine strikte Bettruhe verordnet, hält er sie ein.

„Der ICE hat seinen Zauber verloren“

Hier trennen sich die Wege der Freunde in absehbarer Zeit. Denn Jarawan, obwohl kürzer dabei, ist ein wenig müde. Der Enthusiasmus lässt nach. Vormittags in einen Zug nach Dortmund steigen, abends sieben Minuten auftreten, am nächsten Morgen wieder zurück – das war früher ein Heidenspaß. Heute seufzt er: „Der ICE hat seinen Zauber verloren.“ Und ausgerechnet jetzt wird er deutschsprachiger Meister. „Mit einem solchen Erfolg hast du ein Jahr lang ausgesorgt“, schwärmt Hanz. Im Gesicht: das Lächeln eines Spitzbuben. Er wüsste das zu nützen. Atemlos, mit feurigem Eifer. Und was macht Jarawan?

Im Augenblick des Triumphs in der Stadthalle Heidelberg vergräbt er das Gesicht in seinen Händen, wischt sich mit dem Finger eine Träne aus dem Auge. Bald ertrinkt er in einem Meer aus Gratulanten, taucht ein in unzählige Umarmungen. Am nächsten Tag fährt der Schwabe in seine Wahlheimat München und fällt auf seine Couch. Es dauert nicht lange, und eine Grippe legt ihn flach. Er hat plötzlich viel Zeit zum Nachdenken.

Altersvorsorge? Das ist etwas für später.

Pierre Jarawan studiert in der bayerischen Landeshauptstadt Theater-, Film- und Fernsehkritik. Berufsziel innerhalb der nächsten zwei bis drei Jahre: Werbetexter. Der Weg dorthin kostet Aufmerksamkeit, just in einer Zeit, in der die Poetry-Slam-Anfragen stapelweise ins Haus flattern. Morgens ein Interview geben, mittags einen Kurs halten, abends auf die Bühne treten. „Das ist alles schön, aber ich werde meinen Terminkalender nicht zubetonieren“, sagt er. Nach und nach wird er die Auftritte als Poet reduzieren. Da obsiegt der Sicherheitsmensch in ihm.

Sein Termin am Freitagabend aber hat höchste Priorität. In der Kirchheimer Bastion kreuzen sich die Wege der Freunde wieder. Jarawan ist in seiner Heimstätte Moderator des Poetry-Slams, auf der Gästeliste steht unter anderem das Duo Hanz N’ Roses, bestehend aus dem Stuttgarter Alexander Willrich und Hanz, dem Freiheitsliebenden, der zurzeit „von dem lebt, was reinkommt“, und nichts daran zu verändern gedenkt. Altersvorsorge? Das ist etwas für später. Der reisende Poet lebt im Jetzt.

Auftritt: Der Dichterwettstreit findet morgen im Club Bastion, Max-Eyth-Straße 57/2, Kirchheim/Teck, statt. Einlass 19 Uhr, Eintritt fünf Euro.