Reinhard Goebel schimpft über die historisch informierte Aufführungspraxis. Aber ist die Szene heute wirklich borniert, und werden alte Instrumente überschätzt?

Stuttgart - Ein Wort geht um in der Welt der alten Musik. „Paradiesvogel-Scheiße“ heißt es, erfunden hat es der Geiger Reinhard Goebel in einem ziemlich polemischen Aufsatz der Zeitschrift „Üben und Musizieren“, und seither herrscht unter den Paradiesvögeln nervöses Flattern und Flügelschlagen. „Paradiesvogel-Scheiße“, so der 64-Jährige, sei, was junge, sich viel zu früh auf historische Stilistik spezialisierende Geiger heute an den Hochschulen zu spielen lernten: also marginale alte Musik, die keiner kennt und keiner braucht, und überhaupt produzierten die Ausbilder heute ein Überangebot an spieltechnisch wie intellektuell schmalbrüstigen, engstirnigen Spezialisten, die den mittlerweile ebenfalls sehr gut über historische Spieltechniken und Stilistik informierten modernen Musikern und Ensembles bald nicht mehr das Wasser reichen könnten.

 

„Gefühlte 95 Prozent vor allem der jüngeren Spezialistinnen und Spezialisten“, schreibt der Professor für historische Aufführungspraxis (und Nachfolger des Pioniers Nikolaus Harnoncourt) am Salzburger Mozarteum, seien mit den Standardwerken des nachbarocken Violinrepertoires total überfordert, die von ihren Interpreten weit mehr verlangen als ihre Vorgänger. Wirklich starke historische Ensembles gebe es heute nicht mehr, von barocker Verzierungstechnik habe ohnehin kaum einer mehr Ahnung („Die meisten Spezialisten halten einen ausgefüllten Quartsprung bereits für atemberaubend kreativ“), und überhaupt seien alte Geigen oder ventillose Blasinstrumente heillos überschätzt: „Es ist der Kopf“, behauptet Goebel, „der die Musik macht, nicht das Instrument! Immer entscheidet der Spieler über die Qualität der Darbietung.“

Polemik als persönliche Rechtfertigung

Das sind starke Worte. Dass man sie auch als persönliche Rechtfertigung, ja als eine Art Rückwärtsverteidigung verstehen muss, relativiert und erklärt die Polemik zumindest ein wenig. 1973 gründete der Geiger und Musikwissenschaftler das Ensemble Musica Antiqua Köln, das damals in Deutschland Vorreiter und Speerspitze der historisch informierten Aufführungspraxis war – und spielte mit seinen Musikern neben Werken bekannter Komponisten auch „Paradiesvogel-Scheiße“ ein: Werke von Kraus, Veracini, Heinichen, unbekannten französischen Tonsetzern.

Noch die Aufnahme von Bachs Brandenburgischen Konzerten durch Goebel und seine Musiker Mitte der 80er Jahre war Teil einer Revolution: Der politische Aufstand der 68er-Generation gegen ihre Väter, die Jasager und schweigenden Mitläufer der Nazizeit, äußerte sich in der Musik durch die Gründung vieler unabhängiger Ensembles – und durch den Aufstand gegen die Gewohnheit, klassische und barocke Werke in sattem, affirmativem philharmonischem Breitwandsound aufzuführen.

Kurz: Die historische (später relativierend: historisch informierte) Aufführungspraxis ist eine Frucht der 68er. Man kann sich heute kaum mehr vorstellen, was es bedeutete, als Nikolaus Harnoncourts Concentus musicus Wien plötzlich Hör- und Aufführungsgewohnheiten in Frage stellte und Diskursives in die Interpretation alter Musik einflocht; als bei der Aufführung plötzlich nicht Verschmelzung oberstes Gebot war, sondern eine Klarheit und Durchhörbarkeit von Klängen, die eben nur mit seinerzeit exotisch wirkenden Instrumenten erreicht werden konnte. Und die das Verständnis von Musik neu definierte: als eine Kunst, die sprachlich-rhetorisch ausformuliert werden muss, weil sie nicht nur stumm und schön ist, sondern etwas zu sagen hat.

Nach Erkrankungen des rechten und des linken Arms begann Goebel zu dirigieren

Reinhard Goebel hat, auch weil er nach Erkrankungen erst des rechten, dann des linken Arms nicht mehr als Geiger am ersten Pult sitzen konnte, sein Ensemble 2005 aufgelöst. Stattdessen hat er zu dirigieren begonnen – und gilt seither als der Mann, der alte Musik zu modernen Instrumenten bringt. Der Streichern in großen Orchestern den behutsamen, sparsamen Umgang mit dem Vibrato beibringt, der Musikern Wissen um unterschiedliche historische Regeln und Stilistiken vermittelt. Aus der Sicht vieler Musiker der Alte-Musik-Szene ist er so gleichsam vom Paulus zum Saulus geworden. Und er hat – ähnlich wie Harnoncourt, der aber neben seiner Arbeit mit modernen Klangkörper weiterhin auch mit seinem historischen Ensemble auftrat – mit dafür gesorgt, dass die Revolution von ehedem nun in der Mitte der Gesellschaft, im Mainstream, angekommen ist.

Heute tragen die langhaarigen Außenseiter von damals Anzug oder Frack, und andere haben sich ihre Ideen zu Eigen gemacht. Im Leiden daran, den früheren Aufbruchs-Impetus und die Aura des Besonderen verloren zu haben, sind die Alte-Musik-Guerillas der 60er bis 80er Jahre der einstigen Friedensbewegung, den frühen Grünen verwandt; wie bei diesen reiben sich auch in ihren Reihen Fundamentalisten an Realisten. So gesehen, ist Reinhard Goebel ein Realo der alten Musik. Ein Revolutionär, der jetzt seine eigenen Kinder frisst; einer, der resignierend feststellt, dass kaum mehr zu erreichen ist als das, was in den letzten fünf Jahrzehnten erreicht wurde. Wenn Goebel jetzt auf jene Paradiesvögel schimpft, die aus ihrer historischen Nische nie hinauskommen, dann ist das auch eine Rechtfertigung dafür, dass er die Alten Musik, indem er sie zu modernen Orchestern transportierte, zwar aus ihrer Nische herausholen half, ihr dadurch zwangsläufig aber auch manche Kante, manches Abenteuerliche und Aufregende des Fundamentalistischen nahm.

Alte Musik zwischen Markt und Marotte(n)

Sieger dieser Entwicklung ist: der Markt. Wenn, wie heute etwa in Aufführungen barocker Opern an Opernhäusern, das Orchester des Hauses unter der Leitung eines Spezialisten und unter Mithilfe historischer Continuo-Instrumente im hochgefahrenen Graben sitzt, dann goutiert das Publikum die kontrastierenden Farben und Lautstärken wie auch die halbimprovisierten Ornamente. Konzerte historisch informierter Ensembles wiederum sind in der Regel gut besucht, weil diese, wie es so schön heißt, „auf der Stuhlkante musizieren“, und die ereignisreichen, mit Kontrasten von Dynamik, Tempo und Klangfarben gesättigten CD-Aufnahmen von ihnen verkaufen sich vergleichsweise blendend.

Es gibt also Gründe genug, jungen Menschen heute Mut zu machen, sich in den Spezialistenpool des Alten hineinzubegeben, und das darf man auch deshalb tun, weil dieser Pool bei weitem nicht die Qualitätsprobleme hat, die Goebel geißelt. Mit Einschränkungen allerdings, und bei deren Benennung hat Goebel Recht: Eine allzu frühe Festlegung bei der Ausbildung kann einengen – in der Spieltechnik ebenso wie in der Breite des Wissens und in einem Repertoire, das tatsächlich mehr und besser sein sollte als manches, das nur gespielt wird, weil keiner es kennt, und das dann wirklich bloße „Paradiesvogel-Scheiße“ ist.

Auch heute spezialisieren sich Musiker erst nach einer stilistisch breiten Grundausbildung

Unrecht hat Goebel, wenn er auf allzu frühe Spezialisierung schimpft, denn wie schon vor zwanzig, dreißig Jahren spezialisieren sich junge Musiker heute noch immer meistens erst nach einem breiten Bachelor-Studium, also nach acht Semestern, auf alte Musik. So haben beispielsweise alle Streicher des Freiburger Barockorchesters auf modernen Instrumenten zu spielen begonnen, unterrichten selbst fast ausschließlich Studenten, die eine breite Ausbildung hinter such haben, und tatsächlich hat man nicht nur bei den Freiburger Musikern nie den Eindruck, dass hier bornierte Fachidioten mit spirrigem Ton nur einem verquasten Klangideal ohne Leben und Sinnlichkeit zuarbeiten. Im Gegenteil: Hier sitzen und stehen vitale, wissende Menschen, die Musik nicht nur machen, sondern durchleben – und die Goebels proklamierte Trennung zwischen Instrumenten und Köpfen mit viel Herz aushebeln.

Was wollen wir hören, wen wollen wir hören? Jenseits aller Polemiken, jenseits aller scharfzüngigen Dogmen, Rechtfertigungsneurosen und Rückzugsgefechte geht es eigentlich doch um etwas sehr Schlichtes: Etwas Besonderes soll sich im Konzert ereignen, etwas Berührendes soll in der Musik sein. Das braucht solide Grundlagen (im Umgang mit den historischen Bedingungen der Werke wie im reinen Hand-Werk des Spielens), aber darüber hinaus braucht es, um zu wirken, vor allem eines: Feuer. Es muss ein Funke da sein. Der entsteht nicht ohne Voraussetzungen. Und der verglimmt rasch bei bloßen Selbstdarstellern. Er ist aber die erste, wichtigste Voraussetzung für einen Dialog zwischen Bühne und Saal, Kunst und Publikum, ohne den alle Musik heute nicht lebendig sein und bleiben kann. Schließlich gilt, so viel zu historischen Klängen mittlerweile auch erforscht sein mag, immer noch die Feststellung: Wir wissen, dass wir nichts wissen. Das kann eine schwere Hypothek sein. Oder aber ungemein erleichternd: eine Aufforderung zum Spiel.

Reinhard Goebels Artikel kann man im Internet nachlesen unter: http://www.schott-musikpaedagogik.de/cms/resources /146908993402689a65c2b6a554ff83a11d0c783b56/Goebel_Musikalische_Paradiesvogel_Scheisse.pdf