Die tödlichen Schüsse auf den afghanischen 17-Jährigen, der zuvor Zugreisende angegriffen hatte, wirft ein Schlaglicht auf das nervöse Verhalten der Polizei.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Noch in der Nacht, kurz nach der Bluttat von Würzburg, twitterte die Grünen-Politikerin Renate Künast ihre Anklage in die Welt hinaus: „Tragisch und wir hoffen für die Verletzten. Wieso konnte der Angreifer nicht angriffsunfähig geschossen werden???? Fragen! #Würzburg“ – und löste gleich eine erregte Twitterdebatte aus. Am Morgen keilte der Chef der Polizeigewerkschaft (DPolG) im Beamtenbund, Rainer Wendt, zurück: Er verurteilte „kindliche Fragen“ und warf Künast „Klugscheißerei“ vor. Die Vorsitzende des Rechtsausschusses im Bundestag zeigte sich zum Teil einsichtig: „Ein Tweet ist offenbar viel zu kurz, um auf so eine gewalttätige Attacke angemessen zu reagieren.“ Ihre Zweifel bleiben.

 

Rüdiger Seidenspinner, Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP), lehnt beide Reaktionen ab: „Ich halte es für gefährlich, wenn Politiker sich sofort nach so einem Ereignis zu Wort melden, ohne sich zuvor zu orientieren“, sagte er dieser Zeitung. Künast sei kaum in der Lage gewesen, „den Sachverhalt zu überschauen“. Umgekehrt dürfe man nicht „in der gleichen Tonart gegenhalten und damit Nervosität nach außen vermitteln“.

„Ausbildung in Baden-Württemberg ist top“

Die Kollegen eines Sondereinsatzkommandos (SEK) hätten „gemacht, was polizeilich und rechtlich notwendig und möglich war“. Dennoch bleibt die Frage: Mussten sie den Flüchtling töten? Unabhängig vom Einzelfall hält Seidenspinner fest: „Bei uns ist es oberste Prämisse, einen Angreifer angriffsunfähig zu machen.“ Dazu werde auf Arme und Beine gezielt, aber wenn sich der Körper bewege, gerate er ins Schussfeld. „Wenn der Täter auf mich zurennt, ist es verdammt schwer, einen platzierten Schuss abzugeben“, da seien „SEKler“ nicht vor Fehlern gefeit. In „situativem Handlungstraining“ seien alle Polizisten gut trainiert, sagt Seidenspinner. „Die Ausbildung in Baden-Württemberg ist top in der Hinsicht.“ Das Scheibenschießen wurde längst durch realitätsnahes Training ersetzt; heute dienen echte Fälle als Übungsbeispiele. Es gebe aber auch Menschen, die versuchen, einen tödlichen Schuss zu provozieren, „suicide by cop“ (Selbstmord durch Polizisten) genannt.

Das Gesetz gibt eine klare Richtung vor: „Ein Schuss, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tödlich wirken wird, ist nur zulässig, wenn er das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebensgefahr oder der gegenwärtigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der körperlichen Unversehrtheit ist“, heißt es im baden-württembergischen Polizeirecht.

2014 wurden sieben Menschen von der Polizei getötet

Laut der Statistik zum polizeilichen Schusswaffengebrauch sind keine negativen Trends zu erkennen. Innerhalb der vergangenen zehn Jahre haben Beamte jeweils zwischen 26-mal (2006) und 46-mal (2014) direkt auf Personen geschossen. Vor zwei Jahren töteten sie – meist in Notwehr – sieben Menschen und verletzten 31. Zahlen für 2015 sind nicht bekannt. Dass die Terrorgefahren auch in Deutschland den Druck auf die Beamten verstärkt und ihre Waffe lockerer sitzen, glaubt der GdP-Landeschef nicht. Im Südwesten sei dieses Jahr im „verschwindend geringen Maße“ davon Gebrauch gemacht worden, sagt er. „Meine Kollegen sind meilenweit von dem weg, was wir in den USA erleben.“ Felsenfest sei er davon überzeugt, dass wir „solche Verhältnisse“ nie bekommen werden – auch weil die Polizeiausbildung in den USA nur sechs Monate dauert. „Die Kollegen sind sehr wachsam und haben vielleicht mal eher die Hand an der Waffe, falls was passieren könnte.“ Auch könne es eine deutlichere Ansprache geben. Die Beamten mögen anders reagieren – „aber nicht mit der Schusswaffe“.