Stuttgart - "Wenn Sie den Kampf haben wollen, wir nehmen ihn an.“ Gerhard Pfeifer vom Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 hatte bei der 79. Montagsdemonstration seine Ansage zwar mit dem Zusatz „natürlich nur mit friedlichen Mitteln“ versehen, doch das hatten offenbar nicht alle der laut Polizei rund 3000 (laut Veranstalter 7000) Teilnehmer hören wollen. Die unübersichtliche Lage beim anschließenden Protestzug von rund 1500 Menschen über die Straße Am Schlossgarten zum Südflügel, der vom Abbruch bedroht ist, nutzten einige Personen zunächst, um den Schutzzaun der Grundwasserreinigungsanlage umzuwerfen. Doch das war nur der Anfang.

 

Während der von der Gruppe Architekten für K21 eingeladene ehemalige Oberkonservator und Denkmalpfleger Norbert Bongartz nahezu unbeachtet über die Schönheit des Südflügels referierte und die geplante Zerstörung des Baudenkmals anprangerte, betraten mehrere hundert Demonstranten das ungeschützte Baustellengelände, um danach etwa zehn Aktivisten zu feiern, die das Dach und die Tanks des Grundwassermanagements erklommen hatten. Am Montag hatte die Bahn offiziell mit der von den Protestgegnern kritisierten Verlegung der Rohre begonnen. Drei Transparente wurden angebracht, einige der zeitweise vermummten Demonstranten tanzten und prosteten der Menge mit ihren Bierdosen zu. Etwa drei Stunden später verließen sie freiwillig ihren Aussichtspunkt. Sie wurden von der Polizei vorläufig in Gewahrsam genommen.

Die Polizei war mit einem Großaufgebot im Einsatz, schritt aber zunächst nicht ein. Es herrsche eine „aggressive bis feindselige Grundstimmung“ gegenüber den Beamten, beklagte Sprecher Olef Petersen. Er sagte, es seien bei der Stürmung der Baustelle neun Polizisten verletzt worden, allein acht seien mit Verdacht auf ein Knalltrauma ins Krankenhaus gebracht worden. Nachdem die Polizei aufmarschiert war, um den Eingang zur Grundwasserreinigungsanlage zu sichern, war in deren Nähe eine selbst gefertigte Knallbombe gezündet worden. Ein Polizist in Zivil sei von der Menge identifiziert und danach mit Tritten ins Gesicht und gegen den Hals schwer verletzt worden. Der Beamte habe versucht, Demonstranten von Sachbeschädigungen abzuhalten.

"Das ist nur noch kriminell"

In der Tat haben unzählige Bürger aller Altersklassen die Gelegenheit genutzt, ihren Unmut über die Bahn und Stuttgart 21 am Baumaterial und Geräten auszulassen. Betagte Damen ließen die Luft aus gewaltigen Lastwagenreifen, Familienväter und Rentner halfen einander beim Umwerfen von Paletten. Es flogen mächtige Metallteile, ganze Gruppen harmlos anmutender Protestler versuchten sich am Anzünden von Gummiteilen, die aus den Grundwasserleitungsrohren ragten. Dafür gab es viel Beifall, viele Demonstranten zeigten sich aber auch fassungslos und entschuldigten sich bei den Polizisten. Der Grünen-Stadtrat Jochen Stopper, der bei der Montagsdemonstration gesprochen hatte, distanzierte sich von den Umtrieben. Das Aktionsbündnis habe nicht zur Gewalt aufgerufen.

Der Stuttgart-21-Sprecher Wolfgang Dietrich kritisierte die Aktion als „nur noch kriminell“. Eine solche Besetzung lasse sich nicht mehr mit dem Demonstrationsrecht rechtfertigen. Die Verantwortung für die erneute Eskalation sieht der Projektsprecher bei der grün-roten Landesregierung. „Es ist die Aufgabe der Regierung, einen Beitrag zur Deeskalation zu leisten“, betonte Dietrich. Der CDU-Fraktionschef Peter Hauk betonte: „Diese Art der gewaltvollen Protestaktionen muss aufhören.“ Die Initiative „Parkschützer“ dagegen wertete die Besetzung der Baustelle als wichtiges Signal. „Es ist ein Zeichen, dass der Widerstand lebt“, sagte deren Sprecher Matthias von Herrmann und sprach sogar von einer „gelösten Feierabendstimmung“. Pfarrer Johannes Bräuchle, bekennender Stuttgart-21-Befürworter, hatte die Ausschreitungen beobachtet und war fassungslos. „Das hat mit freier Meinungsäußerung nichts mehr zu tun“, sagte er.

Update, 21. Juni, 8.30 Uhr: 

Gegner von Stuttgart 21 haben auch am Dienstagmorgen weiter demonstriert. Nach der Eskalation an der Baustelle am Montagabend verliefen die Proteste am Morgen danach jedoch friedlich. Auch in der Nacht habe es keine weiteren Ausschreitungen gegeben, sagte ein Polizeisprecher auf dapd-Anfrage.

Am Dienstagmorgen hatten mehrere Dutzend Demonstranten kurzzeitig die Zufahrt der Baustelle blockiert. Nach einer Aufforderung der Polizei machten sie allerdings die Straße wieder frei.

Nach den Ausschreitungen hat die Polizei am Dienstag Ermittlungen aufgenommen. Beamte sicherten auf dem Baustellengelände am Hauptbahnhof Spuren an Gebäuden und Fahrzeugen, teilte eine Sprecherin der Stuttgarter Polizei mit. Zudem werde die Aussage eines Polizisten, der den Angriff auf einen Zivilbeamten aus nächster Nähe beobachtet hatte, im Laufe des Vormittags aufgenommen. Zur Höhe des Schadens an der Baustelle konnte die Polizei noch keine Aussage machen.