Immer mehr Menschen ist ein Partner nicht genug. Der Trend heißt Polyamorie - eine Lebensweise, die hierzulande zunehmend Anhänger findet.  

Reportage: Akiko Lachenmann (alm)

New York - Ray Feliciano und seine Freundin Liza haben ein Problem. Sie sind seit zwei Jahren ein Paar, hätten jedoch gerne beide jeweils einen weiteren Partner. Sie sucht nach einem, der wie sie Heavy Metal hört und Steaks mit ihr isst. Er würde mit seiner zweiten Freundin lieber indisch kochen und politische Themen diskutieren. Nur leider denken alle in ihrem Umfeld, dass sie für eine Beziehung nicht mehr offen sind. Die beiden haben sich daher entschlossen, an dem "Polytreffen" der Ortsgruppe Upper West Side teilzunehmen. "Wie signalisiert ihr denn eurer Umwelt, dass ihr polyamor seid?", fragt Ray Feliciano die anderen im Stuhlkreis. Mehr als 20 Männer und Frauen sind zu dem Treffen gekommen.

 

Die Polyamory, auf Deutsch Polyamorie, ist eine Lebensweise, die in den USA zunehmend Anhänger findet. Die "Polys", wie sie hierzulande genannt werden, sind davon überzeugt, dass man mehrere Menschen zugleich lieben und daher auch mehrere Liebesbeziehungen führen kann. Voraussetzung ist, dass alle Beteiligten voneinander wissen. Heimliche Liebhaber sind in dem Konzept nicht vorgesehen.

Wie viele Menschen bewusst polyamor leben, ist statistisch nicht erfasst. In der Datenbank der größten Polyorganisation Loving More befinden sich derzeit mehr als 20.000 bekennende Anhänger. Beobachter der Szene schätzen ihre Zahl in den USA jedoch auf mehrere Hunderttausend. Als prominente Beispiele gelten der Großinvestor Warren Buffett oder die Schauspielerin Tilda Swinton.

Polys streben langfristige Beziehungen an

Vor allem in den Großstädten ist die Polygemeinde in den vergangenen 20 Jahren stark gewachsen. Allein in New York und Umgebung sind 17 Diskussionsgruppen aktiv, darunter eine reine Frauengruppe und eine für Bisexuelle, Schwule und Lesben. Auch in der Öffentlichkeit treten die Polys immer stärker in Erscheinung. Erst vor wenigen Tagen fand im Central Park die dreitägige Veranstaltung Poly-Pride statt, mit Informationsständen, Unterhaltungsangebot und Konferenzen. Die nächste mehrtägige Großveranstaltung, die Poly-Living, ist in zwei Monaten in Philadelphia geplant.

Der Begriff Polyamorie ist erst in den 90er Jahren im Internet entstanden, als sich dort die ersten Netzwerke bildeten. Joe Melhado, der langjährige Moderator der Gruppe Upper West, betont aber, dass er seine Neigung weit vor der Internetrevolution entdeckt habe. "Ich bin polyamor zur Welt gekommen", sagt er. "Schon mit fünf Jahren hatte ich zwei Freundinnen."

Joe ist heute 68 Jahre alt und pflegt vier Liebesbeziehungen. Mit seiner Ehefrau, seiner Hauptbeziehung, teilt er sich ein Haus im New Yorker Vorort Hartsdale. Seine zweite, deutlich jüngere Partnerin lebt im Stadtteil Brooklyn, die dritte im Stadtteil Riverdale, die vierte in Philadelphia. Zwei der Frauen haben ebenfalls weitere Partner, wobei Joe momentan nicht auf dem neuesten Stand ist, wie er sagt. Das sei jedoch untypisch. "Wir Polys streben langfristige, stabile Beziehungen an", so Joe. Das unterscheide sie von den Swingern oder den offenen Partnerschaften.

Der typische Poly

Den typischen Poly beschreibt Joe als Akademiker, Altersgruppe zwischen 30 und 70 Jahren, eher männlich, eher links und liberal gesinnt. Unter ihnen seien viele Computerfreaks, aber auch Künstler oder Lehrer. Mittlerweile seien alle Milieus und Gesellschaftsschichten vertreten.

Am heutigen Abend sind Keysha und ihr Freund gekommen, Afroamerikaner aus Harlem, die zurzeit mit der Eifersucht zu kämpfen haben, da derzeit nur Keysha polyamor lebt. Neben ihnen sitzt Steve, ein britischer Banker, der immer kommt, aber nie was sagt. Den weitesten Weg hat Lewis zurückgelegt, der aus dem Norden des Bundesstaates New York angereist ist. Lewis hat derzeit zwei Liebesbeziehungen: eine ohne sexuellen Kontakt, nämlich zu seiner thailändischen Ehefrau, und eine rein sexuelle mit einem Mann. Obwohl alle drei mit dieser Konstellation im Reinen sind, muss Lewis sein Liebesleben geheim halten. "Da wo ich herkomme, regiert die Tea Party", sagt Lewis, der ein Hotel betreibt und eine Radiosendung moderiert. Deshalb flüchtet er hin und wieder in die Großstadt, um seinesgleichen zu treffen.

Bei den monatlichen Gesprächsrunden geht es immer um Tipps für den Alltag. Politisch sind sie nicht besonders engagiert - man sagt ihnen nach, sie seien zu sehr beschäftigt mit ihrem Privatleben. Auch Joe sieht sich nicht als politischer Aktivist. "Viele von uns würden sich zwar wünschen, dass die Vielehe legalisiert wird", sagt er. Denn Polygamie ist in den USA wie im ganzen westlichen Kulturraum gesetzlich verboten. Derzeit gehe es der Polygemeinde jedoch eher darum, interessierten Menschen ihre Lebensform näherzubringen. Dabei bekommt sie Unterstützung von dem Regisseur Woody Allen, der sich mit Polyamorie in seinen Filmen beschäftigt (zum Beispiel "Vicky Cristina Barcelona"), aber auch von US-Fernsehserien wie "Big Love", die vom Leben eines dreifach verheirateten Mannes erzählt.

Polyamore Mutter verliert Sorgerecht

Mit dem Gesetz geraten die Polys lediglich aneinander, wenn es ums Sorgerecht geht. "Haltet euch von den Medien fern, wenn ihr Kinder habt", warnt der Verein Polyamory Society und verweist auf einen Prozess, bei dem eine junge Frau aus Tennessee nach einem Interview für den Musiksender MTV das Sorgerecht für ihre Tochter verloren hat. Wissenschaftler von der Georgia State University haben in diesem Zusammenhang jüngst die Ergebnisse einer Studie veröffentlicht, wonach sich Kinder in Polyfamilien genauso gut entwickeln wie in konventionellen Ehen, wenn das Beziehungsgeflecht stabil ist.

Konservative Kommentatoren sehen bereits das Ende der Zweipersonenehe dämmern. "Diese stetig wachsende Gruppe ist im Windschatten der Schwulenbewegung aus dem Untergrund emporgestiegen", sagt Glenn Stanton vom Institute of Marriage and Family. Nach der gleichgeschlechtlichen Ehe werde als Nächstes die Vielehe legalisiert, warnt er. Schwulenvertreter wiederum wollen mit den Polys nicht in einen Topf geworfen werden. Homosexualität könne nicht verglichen werden mit einem wählbaren Lifestyle, sagt der Schriftsteller und Schwulenvertreter Andrew Sullivan. Die Bezeichnung "Lifestyle" versucht Joe Melhado in seiner Ortsgruppe tunlichst zu vermeiden. Für ihn persönlich gibt es zur Polyamorie keine Alternative. "Ich will ein erfülltes Liebesleben, aber auch ehrlich sein gegenüber meinen Partnerinnen", sagt er.

Nach zwei Stunden verlegen die Teilnehmer der Ortsgruppe Upper West ihr Gespräch ins angrenzende Restaurant. Joe entschuldigt sich. Er hat an diesem Abend noch Verpflichtungen in Riverdale.

Auch hierzulande ein Begriff

Abgrenzung: Der Begriff Polyamorie ist in den 90er Jahren im Internet entstanden. Er ist nicht zu verwechseln mit Polygamie. Letzteres beschreibt die Vielehe. Polyamorie dagegen meint, mit mehreren Partnern Beziehungen zu führen, ohne zwingend verheiratet zu sein.

Deutschland: Auch in der Bundesrepublik organisieren sich die ersten Anhänger in Internetforen wie www.polyamorie.de. Viele treffen sich regelmäßig bei Stammtischen, auch in Stuttgart und Heidelberg.