Menschenrechte, Demokratie, Vielfalt der Kulturen: Nichts verteufeln moderne Populisten wie US-Präsident Donald Trump und der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan so sehr wie den Kompromiss. Lieber wollen sie das System an sich reißen.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Wenn es irgendwann einmal Lehrbücher für Populismus geben sollte, dann wird die Rede von Donald Trump am 20. Januar 2017 aus Anlass seiner Vereidigung als US-Präsident einen prominenten Platz darin bekommen. Nach sehr knappem Dank an seine Vorgänger und einem noch knapperen Appell an die Gemeinsamkeit des Volkes kam er rasch auf den entscheidenden Punkt: „Heute übergeben wir die Macht nicht nur von einer Regierung an die andere oder von einer Partei an die andere, sondern wir nehmen die Macht von Washington und geben sie an euch, das Volk, zurück.“

 

Das ist der Kern der populistischen Botschaft. Hieraus schöpft sie ihre Kraft, ihre Energie, ihre Aufstellung. Es ist die Behauptung, das Volk, von dem in einer Demokratie bekanntlich alle Macht auszugehen hat, sei im Lauf der Zeit just um diese Macht betrogen worden; eine Gruppe von Herrschenden (bei Trump symbolisiert durch den Ortsnamen „Washington“) habe die Macht an sich gezogen und das Volk schamlos ausgenutzt: „Washington blühte, aber das Volk hat nichts von dem Reichtum gehabt.“ Und: „Das Establishment schützte sich selbst, aber nicht die Bürger unseres Landes.“ Und: „Während sie in der Hauptstadt unseres Landes feierten, gab es für Familien in unserem Land wenig zu feiern.“

Der Politiker, der all dies offenbart und anprangert, will hiermit radikal brechen. Darum ist er kein Präsident wie all seine Vorgänger, die ja selbst nur Teil des Establishments und des zugehörigen Apparates waren. Nein, er ist ein Teil des Volkes – im Grunde das Volk selbst: „Der 20. Januar 2017 wird als der Tag in Erinnerung bleiben, an dem das Volk wieder zum Herrschenden dieser Nation wurde.“

Aus einer politischen Taktik wird ein politisches Programm

Normalerweise gehört in jede Rede eines neuen Präsidenten die Passage, dass nun nach den Streitereien des Wahlkampfes die Zeit für Versöhnung gekommen sei, um sich neu vereint den drängenden Aufgaben widmen zu können. Trumps Worte klingen zwar so ähnlich, meinen aber etwas ganz anderes. Er formuliert nichts weniger als den Wechsel des Systems: An die Stelle der Parteien solle endlich „das Volk“ treten. Aufgrund der Macht und der Bedeutung, die sein Amt nun mal besitzt, war und ist das die beunruhigendste Kriegserklärung an die Werte des Westens seit dem Zusammenbruch des Sowjet-Sozialismus 1989.

In der Tradition einer offenen Debatte ist das Wort „Populismus“ negativ besetzt. Ein Politiker ist dann populistisch, wenn er sich allein aus taktischen Gründen zum Sprachrohr von Stimmungen und Wünschen in der Bevölkerung macht, obwohl er um die negativen Folgen der Erfüllung dieser Wünsche ganz genau weiß. Ein Paradeexemplar dieser gewöhnlichen Populisten aus jüngerer Zeit ist der britische Konservative Boris Johnson. Zum Anführer der Brexit-Bewegung in seinem Land machte er sich weniger aus inhaltlicher Überzeugung, sondern vor allem, um während der langen Kampagne seine Popularität unter den Konservativen zu steigern. Er wusste stets sehr genau um die verheerenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen, die ein EU-Austritt seines Landes haben würde. Aber er rechnete wohl auch gar nicht damit, dass es so weit, also zu einer Brexit-Mehrheit in der Volksabstimmung kommen würde. Umso verdatterter wirkte er nach Bekanntgabe des Ergebnisses – und tauchte erst einmal wochenlang ab.

Zwischen einem taktischen Populisten à la Johnson und den modernen Populisten vom Schlage Wladimir Putins, Recep Tayyip Erdogans, Donald Trumps oder des venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro liegen Welten. Diese wollen sich nicht durch Zuckerstückchen fürs Volk im bestehenden politischen System an die Spitze bugsieren. Sie wollen das ganze System, die alten politischen Regeln aushebeln, um im Namen des Volkes und seiner mutmaßlich ebenso natürlichen wie angeblich offenkundigen Interessen das tun, was die Vertreter der alten Regeln nie zuwege bringen: die Wiedergeburt der russischen Würde, ein neues Osmanisches Regionalreich, Enteignung des Bürgertums, America first!

Grenzen dicht, Mauern hoch, Bier für alle

In Russland, der Türkei oder in Venezuela ist der Umbau von System und Gesellschaft schon erschreckend weit vorangeschritten. In den USA scheint Präsident Trump dagegen die Energie des traditionellen politischen Systems, die berühmten Checks and Balances der amerikanischen Verfassungsorgane, unterschätzt zu haben; vermutlich waren ihm diese Mechanismen zuvor auch gar nicht bekannt. Die Frage, wie weit Trump nun bereit ist, im Kampf gegen seine Gegner noch stärker jene Gruppen im Land zu aktivieren, die mit der offenen, multikulturellen Gesellschaft brechen wollen, gern auch mit Gewalt, ist derzeit noch beunruhigend offen.

Warum sind Populisten per se Feinde des Westens? Weil eine der wichtigsten historischen Errungenschaften des Westens die Erkenntnis ist, dass es „das“ Volk gar nicht gibt. Es stimmt zwar, alle Macht geht vom Volk aus, aber dieses Volk ist eine große Sammlung von Individuen, die sich je nach politischer, sozialer, weltanschaulicher, auch geschlechtlicher Herkunft mal so und mal so formieren, zu Gruppen unterschiedlichster und zu Bündnissen wechselnder Art. Die Verfassungen des Westens sind der Versuch, Instanzen und Abläufe zu definieren, die politische Entwicklungen ermöglichen, unterschiedliche Interessen ausgleichen und stets offen sind für die nötigen Korrekturen. Und das entscheidende Instrument dafür ist eben nicht das Wundermittel der Volkshelden – Grenzen dicht, Mauern hoch, Bier für alle –, sondern der Kompromiss.

Aus „Der Staat bin ich“ wird „Das Volk bin ich“

Nichts verteufeln die modernen Populisten so sehr wie den Kompromiss zwischen unterschiedlichen politischen Zielen, Werten und Positionen. Gegen die sehr unterschiedlichen Interessen in einer Gesellschaft setzen sie die Vereinigungsgewalt durch die Konstruktion von Feindbildern, seien es nun äußere oder innere Feinde. Und wie bezeichnend, dass in Ländern wie Venezuela, der Türkei oder Russland just jene Akte, mittels derer das Volk tatsächlich seinen Willen bekunden kann, die Wahlen, längst nur noch ein politischer Spielball sind, ein- oder ausgesetzt al gusto.

„Der Staat bin ich“, formulierte einst der absolutistische Monarch. „Das Volk bin ich“, lautet die moderne populistische Variante davon. Beides ist zugleich Anmaßung und Kampfansage. Wer die Verrohung und Gewalt fürchtet, die beiden Anschauungen unweigerlich folgen müssen, kann nur jene Werte verteidigen, die der Westen für essenziell hält – Vielfalt, Differenzierung, geregelter Streit, Ausgleich. Populisten sind keineswegs nur jene halt ein bisschen strammer auftretenden Konservativen, als die sie von manchen Leitartiklern gern verharmlost werden. Sie sind Verächter des Westens.