Vor 30 Jahren starb Cläre Schimmel. Sie war Opernsängerin, Schauspielerin, Rundfunksprecherin und TV-Pionierin. Ihre größten Erfolge erlangte sie aber als Leiterin des Hörspiels beim Süddeutschen Rundfunk.

Stuttgart - Als der Stuttgarter Buchhalter Kurt Schimmel 1903 in die Sozialdemokratische Partei Deutschlands eintrat, war seine Tochter Cläre gerade ein Jahr alt. Bis nach dem Ersten Weltkrieg gehörte Schimmel zu den führenden Persönlichkeiten der SPD in Württemberg.

 

Als hochgestellter Gewerkschafter, Mitglied des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold sowie der Eisernen Front, verlor Schimmel 1933 bei der Gewerkschaftsliquidierung durch die Nazis seinen Arbeitsplatz. In dieser Zeit begann die Karriere seine Tochter. Sie hatte an der Hochschule für Musik in Stuttgart eine Ausbildung zur Opernsängerin und Schauspielerin absolviert. Es folgten europaweite Auftritte, etwa bei Radio Luxemburg, wo sie im Juni 1934 Arien aus den Opern Richard Wagners sang. In jener Frühzeit des Rundfunks waren Live-Konzerte mit klassischer Musik Schwerpunkte der Sender.

Nach dem Untergang des Dritten Reiches gehörte Kurt Schimmel zu den Männern der ersten Stunde des Wiederaufbaus. Er wurde Generalsekretär im Bayerischen Staatsministerium des Innern. Seine Tochter Cläre ging in die Kultur- und Unterhaltungsbranche, sie wurde Oberspielleiterin beim Süddeutschen Rundfunk und war damit verantwortlich für sämtliche Produktionen von Wort- und Musikbeiträgen.

Die erste Rundfunksendung Deutschlands startete am 29. Oktober 1923. Gesendet wurde aus dem Berliner Vox-Haus. Die ersten Beiträge hatten knapp 1000 Zuhörer und waren im Umkreis von 150 Kilometern zu hören. Trotzdem versprach das neue Medium viel Erfolg. Kurze Zeit später wurden Radiosender in Hamburg, Frankfurt, Köln, München, Leipzig, Breslau, Königsberg und Stuttgart gegründet. Bald schon wuchs die Zahl der Hörer auf eine Million.

„Faust II“ und „Walleinsteins Lager“

Adaptionen bedeutender Theaterstücke waren ein Teil der Radioprogramme. Im November 1924 wurde in Hamburg Goethes „Faust II“ inszeniert, und im Januar 1925 folgte in Berlin „Wallensteins Lager“. Parallel zu den eigens für das Radio bearbeiteten Stücken etablierte sich mit dem Hörspiel eine neue Literaturgattung. Texte wurden speziell für das Radio geschrieben. Nachdem Radio London im Januar 1924 mit „A Comedy of Danger“ von Richard Hughes den Anfang gemacht hatte, folgte am 21. Juni 1925 in Deutschland das erste Hörspiel mit literarischem Anspruch: Rolf Gunolds „Spuk“, gesendet von der Schlesischen Funkstunde in Breslau.

Noch aber standen die etablierten Schriftsteller dem neuen Medium kritisch gegenüber, so dass gute Stoffe Mangelware waren. Das änderte sich rasch. Ende der zwanziger Jahre brachten Autoren wie Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Erich Kästner Hörspielen die erste Blüte der jungen Literaturgattung. Bis 1932 wurden in ganz Deutschland 1400 Hörspiele gesendet.

1936 zog Cläre Schimmel von Stuttgart nach Berlin. Obwohl die Radioprogramme nur abends gesendet wurden, waren geschulte Sprecher gesucht. Cläre Schimmel ließ sich mit 34 Jahren zur Rundfunksprecherin ausbilden. Aber die Liebe zum Radio schien noch nicht so ausgeprägt gewesen zu sein, denn 1938 wechselte die Vielseitige und immer an Neuem Interessierte zum Deutschen Fernseh-Rundfunk. Er strahlte ein regelmäßiges Fernsehprogramm aus, das im Umkreis von etwa 80 Kilometern um Berlin empfangen werden konnte. Seit März 1935 sendete man zunächst an drei Tagen in der Woche, dann täglich von 20.30 Uhr bis 22 Uhr. Da sich kaum jemand einen Fernsehapparat leisten konnte, gab es in Berlin die „Fernsehstuben“, in denen man das Programm auf einem 18 mal 22 Zentimeter großen Bildschirm in kontrastarmen, schlecht aufgelösten Bildern sehen konnte.

Abkehr vom Fernsehen

In die Zeit fielen auch Cläre Schimmels erste Regiearbeiten bei Dokumentationen und Kleinfilmen. Kurz vor Ende des Kriegs zog sie wieder nach Stuttgart und wechselte endgültig zum Radio. Den Grund für ihre Abkehr vom Fernsehen formulierte sie so: „Die Poesie eckt ständig an, sie wird von der Technik gedrosselt.“

Im Herbst 1945 nahm Cläre Schimmel ihre Tätigkeit als Spielleiterin für Radio Stuttgart, den Sender der amerikanischen Militärregierung, auf. Am 22. November 1945 wurde die erste Hörspielproduktion gesendet, bei der sie Regie führte: „Miles Standish’s Brautwerbung“ von dem US-Autor Henry Longfellow. Zwei Jahre später wurde sie vom Intendanten Fritz Ermarth zur Oberspielleiterin ernannt und leitete fortan sämtliche Hörfunkproduktionen. Ein großer Karrieresprung für eine Frau in jenen Jahren. Aber ihre Karriere ging noch weiter.

1950, Radio Stuttgart hieß da schon seit einem Jahr Süddeutscher Rundfunk (SDR), wurde sie Leiterin der Hörspielabteilung, und in dieser Funktion wollte sie, wie sie es in einem Interview ausdrückte, „nie mehr als die Sprache selbst sprechen lassen“. Die fünfziger Jahre waren die goldene Zeit des Hörspiels, die Cläre Schimmel maßgeblich mitprägte. Die Zuhörerzahlen lagen bei Hörspielen deutschlandweit im Millionenbereich. Familien und Freunde trafen sich vor den Radiogeräten und lauschten gemeinsam den Geschichten. Das Fernsehen startete zwar schon im Jahr 1952 wieder, aber den Rang als beliebtestes Unterhaltungsmedium sollte es dem Radio erst in den sechziger Jahren ablaufen.

Bedeutende deutsche Schriftsteller arbeiteten jetzt gerne und häufig für das Radio: Ilse Aichinger, Alfred Andersch, Ingeborg Bachmann, Friedrich Dürrenmatt, Günter Eich oder der Nobelpreisträger Günter Grass, dessen Hörspiel „Hochwasser“ 1957 beim SDR produziert wurde und bei dem Martin Walser Regie führte.

SDR und NDR machen gemeinsame Sache

Eine Besonderheit dieser Zeit war die erfolgreiche Redaktionsgemeinschaft der Hörspielabteilungen von SDR und NDR. Dieser Begriff, so Cläre Schimmel, besage nichts anderes, „als dass der SDR und der NDR sich verpflichten, ihre Hörspieldramaturgien, alle Manuskripte, die sie in die engere Wahl ziehen, sich gegenseitig zur Kenntnis zu bringen. Entschließen sich beide Sender zur Annahme des Manuskripts, so versuchen sie gleichfalls, die Sendetermine zu koordinieren und kennzeichnen die Sendung als Gemeinschaftsredaktion.“

Ein Hörspiel, das 1952 aus der Redaktionsgemeinschaft entstand, war „Die Andere und ich“ von Günter Eich. Cläre Schimmel führte in Stuttgart Regie, Gustav Burmester in Hamburg. Im folgenden Jahr wurden beide Produktionen mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden geehrt, der bedeutendsten Auszeichnung für deutschsprachige Hörspiele.

Die erfolgreichste Produktion der von Cläre Schimmel hoch geschätzten Redaktionsgemeinschaft war das 1953 gesendete Hörspiel „Das Schiff Esperanza“, dessen Autor Fred von Hoerschelmann in Tübingen ansässig war. Hier führte für den Süddeutschen Rundfunk Oskar Nitschke die Regie und für den Norddeutschen Rundfunk Otto Kurth. Die beiden Produktionen wurden damals, wie zwischen den beiden Hörspielredaktionen vereinbart, im Abstand von wenigen Tagen gesendet.

„Das Schiff Esperanza“ wurde in zwanzig Sprachen übersetzt und gilt inzwischen als das erfolgreichste deutsche Hörspiel überhaupt. Bis heute hat es nichts an Aktualität eingebüßt. Die Story: der Kapitän des Schiffes nimmt illegale Auswanderer für viel Geld an Bord und sagt ihnen zu, sie nach Amerika zu bringen. Aber die Migranten werden nicht wie versprochen an Land gebracht, sondern vor der Küste ausgesetzt, wo sie schließlich ertrinken.

Die große alte Dame des Hörspiels

Unter der Ägide von Cläre Schimmel wurden auch Hörspielreihen kreiert: „Pioniere des Hörspiels“ etwa widmete sich den vor dem Zweiten Weltkrieg produzierten Hörspielen. „Dramen der Weltliteratur“ bestand aus Adaptionen bedeutender Werke von der Antike bis in die Gegenwart. „Zeichen der Zeit“ brachte den Hörern zeitkritische Beiträge nahe. Bei „Unter falscher Flagge“ ging es um spannende Spionagefälle.

Cläre Schimmel blieb ledig und wurde von allen, die sie kannten, als Dame bezeichnet. Vielleicht weiß man deshalb auch so wenig über ihr Privatleben. Sie legte ein enormes Arbeitspensum vor. Erholung fand sie bei ihren Reisen in „die Sonne“, wie sie es nannte oder in ihr „geliebtes Oberbayern“. Sie war Mitglied der Prüfkommission der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger, die alljährlich auf der Probebühne des Württembergischen Staatstheaters den Schauspielnachwuchs beurteilte. Auch als Sängerin war sie noch zu hören, so trat sie im Juni 1947 zum zweijährigen Jubiläum von Radio Stuttgart mit dem Großen Orchester auf und sang eine Arie aus Richard Wagners „Lohengrin“.

Unter ihrer Leitung wurden beim SDR mehr als 1000 Hörspiele produziert, bei mehr als hundert führte sie selbst Regie. Im Januar 1967, im Todesjahr ihres Vaters, trat sie in den Ruhestand und lebte noch 19 Jahre in ihrem Haus im Stuttgarter Stadtteil Sonnenberg. Am 6. März 1986 starb Cläre Schimmel nach langer Krankheit. Sie wurde auf dem Waldfriedhof in Degerloch im Familiengrab beigesetzt. Das Grab wurde vor 15 Jahren eingeebnet.