In ihrem Debüt „Halb Taube Halb Pfau“ hat Maren Kames den Begriff des Buches aus den Angeln gehoben. Nun ist sie die erste Kooperationsstipendiatin des Literaturhauses Stuttgart und der Akademie Schloss Solitude. Spaziergang durch eine Text-Landschaft.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Alles weiß. Es hat geschneit. Weißraum würde man das auf den Seiten eines Buches nennen, ein Nichts, in dessen Offenheit die Zeichen treiben. Von alleine wäre man wohl nicht darauf gekommen, die Seiten eines Buches und die Erfahrung der Landschaft zur Deckung zu bringen. Aber schließlich kommt man nicht ohne Grund hierher, wo die unwirkliche Silhouette der Solitude in spätbarocker Symmetrie über frostigem Abendlicht schwebt. Denn hier lebt seit einigen Wochen die Autorin Maren Kames als erste Kooperationsstipendiatin des Literaturhauses und der Akademie Schloss Solitude. Und ihr Buch „Halb Taube halb Pfau“, von dem man gar nicht sagen kann, welcher Gattung es eigentlich zugehört – Lyrik, Prosa oder ganz etwas anderes – übt auf die Vorstellungskraft des Lesers eine solche Wirkung aus, dass er beim Blick auf die nahen Wälder der produktiven Wildnis hier oben unwillkürlich an Wölfe denken muss. Wölfe, die womöglich lachen oder laut gähnen. So wie sie dies in einem der Textblöcke tun, die in dem Band aus dem Weißraum ragen, vielsagend und schroff wie Findlinge in einer verschneiten Urlandschaft.

 

Die Gänge der Akademie sind menschenleer. Ein bisschen wie ein Schlossgespenst geistert die zierliche junge Frau durch das weitläufige Gebäude. Aber vielleicht ist auch das nur eine Fantasie, die auf den Text-Raum zurückführt, den sie einmal eröffnet hat und der sie nun nicht mehr loslässt. Denn hierin kann man sich leicht verlieren, zwischen Tagesresten, die nach einer fluiden Logik Gestalt annehmen und wieder verschwimmen, elementaren Schöpfungsakten, die eine Art zwischenmenschliche Kontinentaldrift spiegeln, und Zonen, in denen der Text seine Augen nach innen wendet und sich selbst beschreibt: „Oft bricht etwas einfach ab. Oder scheint wie abgebrochen liegen gelassen. Und trotzdem ist es so, als würden auch die Unebenen zur Landschaft gehören.“

In einer ersten Fassung war „Halb Taube halb Pfau“ die Abschlussarbeit für den Studiengang Literarisches Schreiben in Hildesheim. 2013 gewann Kames damit in Berlin den wichtigen Nachwuchswettbewerb Open Mike, und beim Erscheinen des Buches im Herbst vergangenen Jahres schrieben einige Rezensenten vom wichtigsten Debüt der Saison.

Spannend wie ein Abenteuerroman

In einer WG-Lesung der Zwischenmieten-Reihe des Literaturhauses konnte man jüngst in einer rappelvollen Altbauwohnung junge Leuten erleben, die sich mit geschlossenen Augen tief versunken Wortfolgen wie diesen überließen: „Findest dich, Sonntagmorgen halb acht, bei den Haubentauchern an den Gestaden stierst in die Schlieren säufst die Aussicht bis blindlings stehst knietief im Siel rings schluckst Wasser vom Rand ab haust schlaff auf die Planken liegst aus da wie Pfandgut“. Zitieren führt hier leicht auf die falsche Fährte. Aus der raumzeitlichen Ordnung des Buches genommen, schnurren solche Passagen zum kryptischen Ungefähr moderner Lyrik. Im unmittelbaren Erleben des Lesens aber fügen sie sich in einen Zusammenhang, so spannend wie ein Abenteuerroman, zumal es einem selbst obliegt, ihn herzustellen.

„Der Text wollte immer schon in den Raum“, sagt Maren Kames. Er wurde bereits in den Loop eines begehbaren „White Cube“ verwandelt. Nun brütet sie in ihrem kleinen Studio auf der Solitude darüber, wie sich seine ästhetische Mehrdimensionalität auf die Verhältnisse des Stuttgarter Literaturhauses übertragen lässt. „Ich möchte etwas, das unter Einsatz aller Register zustande kommt“, heißt es an einer Stelle. Ab dem 14. Februar wird man sich dem aussetzen können: „Halb Taube Halb Pfau – die Ausstellung.“

Kames wurde 1983 in Überlingen geboren. Mit drei ist ihre Familie vom Bodensee weggezogen, doch eine Nähe zum Flüssigen hat ihre Sprache bewahrt. Sie wuchs in Scharnhausen auf. In einem längeren Erinnerungszoom auf Familienlust und –leid erscheint einmal ein Großvater. „Meine Mutter hat das Buch zu Weihnachten der Großtante geschickt“, erzählt Kames. „Sie hat sie gewarnt und gesagt, sie würde es auch nicht richtig verstehen, das sei eben junge deutsche Gegenwartsliteratur, aber irgendwo sei der Opa versteckt. Später hat die Tante angerufen: Sie hätte ihn gefunden, der, der einmal ,Obacht‘ sagt.“

Gesamtkunstwerks aus dem Geist des Konzeptalbums

In Berlin, dem Zentrum der jungen deutschen Gegenwartsliteratur, in dem Kames mittlerweile lebt, ist so etwas wohl eher seltener zu hören. Aber Obacht: wollte man ihren Werdegang in die Form einer üblichen Jungautorenkarriere zwingen, bliebe manches auf der Strecke. Dazu gehört, dass man sich gar nicht sicher sein kann, es wirklich mit einer Autorin zu tun zu haben und nicht etwa mit einer Komponistin oder einer Künstlerin. Für jenes spricht, dass in „Halb Taube halb Pfau“ mittels eines Smartphones abrufbare Textpassagen integriert sind, die eher an Neue Musik als an junge Literatur erinnern; für dieses steht der Umstand, dass die dazu notwendigen QR-Codes Teil eines typografischen Erscheinungsbildes sind, dessen genau gestaltete Aufeinanderfolge von Leerstellen, Sätzen, Erzählfragmenten, Formeln, Codes eher an ein Objekt als an ein Buch denken lassen. Die Geburt des Gesamtkunstwerks aus dem Geist des Konzeptalbums.

QR-Code der Seele

„Ich habe Schwierigkeiten mit den Festlegungen der klassischen Autorenrolle“, sagt Kames, die lange Klavier gespielt hat. Häufig greift sie auf musikalische Formen der Beschreibung zurück. „Ich habe beim Schreiben eine halbbewusste Ahnung, wie die Dynamik in einem Text angelegt ist, wann er Crescendo macht, wann er leise wird, schnell oder langsam.“ Und so liest man dieses hybride Buch, wie man ein Musikstück hört, in dem aus dem Begriffslosen Motive heraustreten, sich wiederholen und eine Macht auszuüben beginnen, deren Aktivierungsschüben man sich nur schwer entziehen kann. Eine Art QR-Code der Seele. „Jemand sagte einmal, meine Texte könnten die Raumtemperatur verändern.“

Draußen schneit es. „90° 0‘0‘‘“ – auch so ein Motiv: der geografischer Nullpunkt in der Antarktis, ein Ort, von dem aus man in alle Richtungen nach Norden schaut. Und ihre eigene Perspektive? Zu den Schwierigkeiten, die Kames mit der Autorenrolle hat, gehört das Unbehagen, in die Produktionszyklen des literarischen Markts eingezwängt zu werden. „Ich liebe Schlaf über alles“, sagt sie in ihrem schönen, leicht somnambulen Tonfall. „Vielleicht bin ich eine Schreiberexistenz geworden, damit ich mir den Wecker nicht stellen muss. Es gibt keinen Alltag, das ist alles ein bewegliches Gefüge.“ Bewegliches Gefüge – besser könnte man „Halb Taube Halb Pfau“ nicht beschreiben. „Vielleicht ist das ja ein Lebenswerk, und ich werde immer daran weiterarbeiten.“