Die Freiburger Ordensschwester Inge Kimmerle hat in Kiew mehr als 500 Straßenkinder aus dem Sumpf geholt. Auch mit 70 hat sie noch Kraft.

Freiburg - Schmal, schmutzig und steil ist der Weg zum Vorhof der Hölle. Mühsam zwängt sie sich durch die verzweigten Kanalgänge, in denen Ratten hausen, hinunter zu Halbwüchsigen, deren Atem nach Pattex schmeckt. Flüchtige Kleberdämpfe, in Tüten geschnüffelt, kriechen in winzige Zellen und betäuben den Schmerz der Vergessenen von Kiew, nach denen selten jemand sieht, es sei denn, Schwester Inge kommt, die Verrückte aus Deutschland, die mit dem Sahnehäubchen im Haar und dem Gefühl im Bauch, dass sich Dinge verändern lassen, wenn man es bloß will.

Bei Oleg, Nastja und Sergej hat ihr Zauber gewirkt. Sie kamen weg von der Straße, an einen überdachten Ort, wo man ihnen langsam beibrachte, dass Erwachsene nicht nur schlagen und schreien. Schwester Inge, die hinabgestiegen ist ins Elend, hat das Geld gebracht für die blau-gelben Häuser, vor denen die Fahne der Ukraine weht. Mit den Jahren sind 500 Straßenkinder hier dem Wahnsinn entkommen, weil Frau Kimmerle im Bunde mit dem Ewigen vor nichts Angst hat, nicht einmal vor der Hölle unter dem Asphalt von Kiew.

35-mal ist Schwester Inge in der Ukraine gewesen. Geschichte. Jetzt ist sie in Freiburg und packt ihre Sachen. Es ist ein warmer Apriltag, an dem sich die Forsythien im Breisgau dem Himmel entgegenstrecken, der so blau ist wie das kleine Trampolin, das vor der Stube ihrer Altbauwohnung steht. Manchmal hüpft sie auf dem Ding, als gelte die Schwerkraft nicht für Menschen von ihrem Schlag. Schwester Inge ist auch im siebzigsten Frühling noch gerne auf dem Sprung.

Den Butterkuchen stellt sie auf die rosafarbene Tischdecke neben ihre Teekanne, vor der alte Zeitungsartikel liegen. Die Porzellanteller mit dem Goldrand sind noch nicht im Karton verstaut. Ende des Monats wird Schwester Inge nach Berlin fliegen und sich bei der Stadtmission um Obdachlose kümmern. Neue Wunder machen. "Er hat noch einen Auftrag für mich", sagt sie und grinst. "Sie wissen: ich hab's mit dem da oben."

Auf einem langen unsicheren Weg zu Gott


Dass er es auch mit ihr hat, war lange nicht so ganz klar bei Inge Kimmerle, die 1939 in Herrenberg als jüngstes von fünf Kindern einer Handwerkerfamilie geboren ist. Als sie neun war, starb unerwartet ihr Vater an Kreislaufversagen. Sie spielte gerade auf einem Baum im Garten. Ihre Mutter zerrte sie ans Sterbebett. "Dieser Tod war für mich wie ein Erdbeben."

Inge Kimmerle, die ein rebellisches Kind war, machte sich an jenem Tag auf eine lange und komplizierte Suche, die sie mit Gott in Berührung brachte, an den sie glaubte, ohne ihm anfangs zu vertrauen. Bei einem Jugendtreffen im nahen Aidlingen, wo die Diakonissen ihr Mutterhaus haben, kam sie ihm näher, verlor ihn aber wieder aus den Augen, als sie Krankenschwester wurde. Sie hatte einen Mann kennengelernt und träumte mit ihm von einer Familie.

"Ich war in dieser Zeit als Frau noch nicht geweckt", sagt sie und schiebt die grüne Kerze auf dem Tisch zur Seite. Immer wieder schließt sie ihre Augen, wenn sie von damals erzählt, als sie schon aphrodisiert war vom Aroma des Religiösen und zugleich von der Angst beseelt, vielleicht das Falsche zu tun. Um mehr über Gott zu erfahren, wechselte sie vom Hospital auf die Bibelschule nach Aidlingen.