Willi Schraffenberger geht als Sozialarbeiter in den Ruhestand. Künstler und Ein-Mann-Bürgerinitiative bleibt er. Er sagt: „Ich habe mich subversiv gelebt.“

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Wo nimmt dieser Mann nur all seine Energie her? Selbst beim Erzählen ist er derart mit allen Sinnen und viel Herz dabei, dass er öfters aufspringt und das, was er schildert, gleichzeitig vorspielt: Wie er oft durch den Wald spaziert und laut Gedichte von Hölderlin zitiert, wie er vor 25 Jahren seine Büroeinrichtung auf die Straße getragen hat, um damit zu demonstrieren, wie schlecht die Obdachlosenhilfe in Stuttgart ausgestattet war, oder wie er als 14-Jähriger im Saarland im Bergwerk arbeitete und sich in der Pause immer in der Dunkelheit des Stollens verkroch, um seine Ruhe zu haben. Schraffenberger erlebt das alles jetzt noch mal. Das ist Willi live!

 

Zum 1. November geht der 65-Jährige, der seit 1987 bei der Ambulanten Hilfe gearbeitet und als Sozialarbeiter obdachlose Menschen begleitet hat, nun endgültig in den Ruhestand. Viele Menschen in Behörden und Politik verstehen das womöglich als Drohung: Jetzt hat er noch mehr Zeit. Tatsächlich ist Willi Schraffenberger beseelt davon, sich einzumischen, er will an der Gesellschaft mitwirken, er ist ein durch und durch politischer Mensch. Er versucht in Uhlbach und Obertürkheim, wo er lebt und werkelt, historische Gebäude vor dem Abriss zu retten, er dokumentiert soziale Missstände mit der Kamera, er organisiert Ausstellungen, er schreibt Bücher, er sinniert über Martin Heidegger, er saß für die Grünen im Bezirksbeirat. Schraffenberger ist Sozialarbeiter, Dichter, Lokalpolitiker, Ein-Mann-Bürgerinitiative, Fotograf – und eigentlich ein Gesamtkunstwerk.

Um zu verstehen, was ihn antreibt, muss man Willi Schraffenberger in seine alte Heimat begleiten, ins Saarland nach Duttweiler. Er lebte dort mit seinen Eltern und den drei Brüdern in einer Drei-Zimmer-Wohnung, Vater und Mutter schliefen im Wohnzimmer, weil so wenig Platz war. Der Vater schuftete unter Tage, und die Mutter musste am Freitagabend wie ein Luchs aufpassen, dass der Wochenlohn nach Hause wanderte und nicht ins Wirtshaus. Kleinste Verhältnisse. Klar, auch Willi ging deshalb unter Tage, er lernte Grubenelektriker – bis er 19 wurde, dann hing buchstäblich der Haussegen schief: Schraffenberger hatte 1968 in der Küche das Bild von Papst Paul VI. abgehängt und ein Porträt Rudi Dutschkes in den Rahmen gesteckt. Der Vater drehte durch, als er nach Hause kam.

Damals hatte Willi Schraffenberger schon gemerkt, dass es für ihn noch etwas anderes geben musste als die Maloche. Er besuchte Philosophiekurse bei der Volkshochschule, las Bücher über den „Ketzer“ Giordano Bruno und wollte irgendwann, wie damals die aufmüpfigen Studenten in Berlin, „den Trotzki auch vorwärts und rückwärts aufsagen können“.

Sein saarländischer Dialekt ist ihm geblieben

Alt-68er, Trotzkist, das ist er auf eine bestimmte Art und Weise geworden und immer geblieben – auch wenn er den eher gemütlichen Revolutionär gibt, denn schon sein saarländischer Dialekt, der ihm geblieben ist, verträgt sich nicht mit strengen Reden: „A jo! Schaua mer mol.“

In der Sache aber bleibt er oft hart. Jetzt, da Schraffenberger nicht mehr als Sozialarbeiter unterwegs ist, kritisiert er offen das Sozialsystem in Stuttgart. Das Grundübel sei, dass die Stadt die allermeisten sozialen Einrichtungen zu einem großen Teil finanziere: „Und wer beißt schon in die Hand, die einen füttert?“, fragt Schraffenberger. Er selbst hat so viele obdachlose Menschen begleitet, dass er heute das Fazit zieht: „Wir Sozialarbeiter sollen doch nur den Weg freimachen, damit die Aussätzigen nicht stören. Aber man will den Menschen nicht wirklich helfen.“ Und die Armut sei in Stuttgart schlimmer geworden in den Jahrzehnten, die er überblicken kann.

Im Jahr 1970 war Schraffenberger nach Stuttgart gekommen, er hat das Abitur auf der technischen Oberschule nachgemacht, wo ihm die Lehrer eine „außergewöhnliche Individualität“ bescheinigten, und studierte in Tübingen Pädagogik. Das sei eigentlich ein Versehen gewesen, sagt Schraffenberger schelmisch, er sei nur nach Tübingen gefahren, um Ernst Bloch mal persönlich zu treffen. Doch später waren die obdachlosen Menschen froh, denn sie spürten, dass er einer von ihnen war: Willi kam auch von ganz unten; der wusste, wie das war, das Leben.

„Ich habe mich subversiv gelebt“

Und vor allem: Schraffenberger kann nie wegsehen, wenn er ein Unrecht oder ein Problem erkennt. Mit seiner eigenen charmanten Ausprägung von Subversivität geht er gegen jedes Unrecht vor, auch wenn er damit viele nervt. Als 1989 die Mauer öffnete und 90 Männer im Schlafsack unter der König-Karl-Brücke lagen, hat er an der Pragstraße direkt neben der Polizei ein Haus besetzt, um Wohnraum für Obdachlose zu schaffen. Noch heute lacht er sich kaputt über den Coup: „Die Polizei hat es abends aus der Landesschau erfahren, dass ihr Nachbarhaus besetzt war.“

Er hat in Obertürkheim Bettlaken mit Sprüchen beschrieben und aufgehängt, um gegen den Abriss historischer Gebäude zu demonstrieren, teils mit Erfolg. Und er blickt selbst dann ganz genau hin, wo andere das Hinschauen nicht mehr ertragen. Als 2003 sein Bruder Karl vom Lungenkrebs zerfressen wurde, hat Willi Schraffenberger wieder die Kamera zur Hand genommen und mit Einverständnis seines Bruders dessen letzte Monate dokumentiert. Die beiden fanden dadurch erst wieder richtig zueinander: Willi fuhr an den Wochenenden hinaus zu Karl nach Neuhausen, badete und pflegte ihn, und gegenseitig erzählten sie sich die schönen alten Geschichten von früher. Karl sagte dann: „Mach was draus, wenn die Bilder etwas werden.“ Nach seinem Tod waren die Fotos in einer Ausstellung zu sehen.

Er ist glücklich und zufrieden

Das neueste Projekt des scheinbar nie ermüdenden Willi Schraffenberger ist der „Kauz vom Katzenbach“. Seit mehreren Jahren besucht er immer wieder einen Mann, der in einem Wohnwagen im Wald lebt. Die Gespräche hat Schraffenberger aufgenommen und daraus einen Film gemacht. Was ihn am Kauz fasziniert, ist dessen verschrobene Logik, die Schraffenberger fast als Kunst ansieht: „Der Mann ist ein Dadaist, weiß es aber nicht.“

Viel mehr noch erfreut sich Willi Schraffenberger aber daran, mit welcher Konsequenz der Mann seinen Weg geht: „Der setzt sich seinen Lebenszweck selbst, und das imponiert mir“, sagt Schraffenberger. Mancher Reiche, der von einem Termin zum nächsten hetze, könne sich von dieser Philosophie eine Scheibe abschneiden: „Mein Kauz ist freier und lebendiger als viele Spießer hier im Land.“

Mit solchen Worten verrät Willi Schraffenberger auch viel über sich selbst. Gefragt, welche Erfolge in seinem Leben für ihn am wichtigsten seien, schüttelt Schraffenberger nur den Kopf. Die Frage versteht er gar nicht richtig. „Alles ist gleich wichtig“, sagt er schließlich: „Alles zusammen macht mich aus.“ Bei diesem Satz wird einem erst klar, was Willi Schraffenberger tatsächlich so beseelt: Er versucht, seiner inneren Bestimmung zu folgen, er will sich selbst treu bleiben. Und das sei ihm gelungen, resümiert Willi Schraffenberger: „Ich habe mich subversiv gelebt.“ Deshalb, gibt er klammheimlich zu, „bin ich auch so glücklich und zufrieden.“