Es mag paradox erscheinen, jemanden einen großen Erzähler zu nennen, der so hingebungsvoll schweigen kann wie Winfried Kretschmann. Ein Porträt.

Stuttgart - Er steht dann einfach da und sagt nichts. Vielleicht fühlt er sich fremd, denkt nach, ist erschöpft. Man weiß es nicht. Er wirkt entrückt. Mitunter führt das zu Irritationen, in der Regel wird das Verstummen als genaues Zuhören interpretiert.

 

Aber dies macht einen Menschen ja interessant: dass es Zwischentöne gibt, Unschärfen, Deutungsspielräume. Wenig finden die Menschen so abstoßend wie das tumbe Hervorstoßen der immer gleichen Parolen, jenen Versatzstücken einer scheinbaren Selbstgewissheit, die in den Ohren dröhnt wie ein Blechnapf, der die Treppe hinunterscheppert. Das Schweigen gehört zu Kretschmann wie sein Reden, und wer ihm oft genug zuhört, der merkt, dass auch der „Staatsphilosoph“, als der er gerne tituliert wird, seine Einsichten so lange wiederkäut, bis sie seine Mitarbeiter selbst des Nachts im Zustand der Volltrunkenheit fehlerfrei herunterbeten könnten.

Grüner Stratege

Kretschmann und den grünen Strategen um ihn herum ist es gelungen, das politische Leben des Ministerpräsidenten von der anfänglichen „Verirrung“ in den maoistischen KBW bis an die Spitze der Landesregierung zu einer großen Erzählung zusammenzubinden. Ein Epos, das in einer Weise überzeugt, dass selbst Christdemokraten wünschten, Kretschmann wäre einer der Ihren. Schon Mitte Dezember – damals betete der baden-württembergische Regierungschef noch nicht täglich für Kanzlerin Angela Merkel – meldete sich ein Leser der Stuttgarter Zeitung mit diesen Zeilen: „Es ist schade, dass man den vernünftigen Herrn Kretschmann als Ministerpräsidenten nur haben kann zusammen mit seiner unvernünftigen und durchideologisierten Fundamentalistentruppe als Regierungspartei. Am liebsten wäre mir, Kretschmann tritt in die CDU ein und wird dort Spitzenkandidat. Als gläubiger Katholik ist er dafür ohnehin schwarz genug. Grün wäre wieder eindeutig grün, und Schwarz wäre eindeutig schwarz. Und ich hätte keine Entscheidungsprobleme vor der Wahl.“

Dass es Kretschmann gelang, im Südwesten so weit in die politische Mitte vorzustoßen, dass ihm Demoskopen sogar zutrauen, die CDU zu überholen: das hat auch mit dem Habitus zu tun, den er pflegt. Kaum im Amt, nahm er – schon ganz Patriarch – gleich das Land in Beschlag. „Meine Minister“, „meine Beamten“, „meine Unternehmer“ – so redete er und tut dies bis heute. Ein rhetorische Geste, die hausväterliche Fürsorge, aber auch hegende Strenge signalisiert. In solchen Formulierungen ist er ganz Erwin Teufel.

Hartnäckiges Bezugnehmen auf CDU-Größen

Keinen seiner Vorgänger zitiert er so häufig wie den Bauernsohn aus Zimmern ob Rottweil. Der Schriftsteller Martin Walser befand schon vor fünf Jahren: „Kretschmann ist der zweite Teufel.“ In seinen Reden bemüht Kretschmann abseits seiner Hausheiligen Hannah Arendt und eines gelegentlichen Klassikers der griechischen Philosophie fast ausschließlich CDU-Politiker. Dieser Tage hielt er im Stuttgarter Haus der Architekten ein als Grundsatzrede avisiertes Referat über die Frage „Was hält unsere Gesellschaft zusammen?“ Fast schon ergriffen erinnerte Kretschmann an den Kongress, den Teufel einst zu diesem Thema veranstaltet hatte. Teufel, Manfred Rommel, Konrad Adenauer: dieses hartnäckige Bezugnehmen auf CDU-Größen hat Methode.

Der grüne Ministerpräsident hält sich und seine Partei auf vielen Ebenen anschlussfähig an das bürgerliche Lager. Das ländlich-konservative Milieu erreicht er mit seinem unverstellt, aber auch unaufdringlich bezeugten Glauben – und mit seiner Liebe zur Natur, die im Wandern ihren Ausdruck findet. Andächtige Stille breitete sich jüngst in der Karlsruher Stadthalle aus, als Kretschmann bei einer gemeinsamen Veranstaltung mit Joschka Fischer auf die Bedeutung von Heimat und Identität in Zeiten der Flüchtlingskrise zu sprechen kam. Er berichtete von einer Moselwanderung, die er mit seiner Frau Gerlinde unternommen hatte. Aber Beheimatung fühle er erst, wenn er den Jurafels der Schwäbischen Alb sehe. Heimat finde er auch in der Sprache: Hochdeutsch, so gut er es eben vermöge, spreche er in Berlin. In Karlsruhe auf dem Podium gehe es auch mit Honoratiorenschwäbisch, mit seiner Frau aber unterhalte er sich „richtig schwäbisch“. Der Mensch wolle „beheimatet und behaust sein“.

Hübscher Coup

Wenn Kretschmann es darauf anlegt, redet er wie ein linksgewendeter Heidegger. Dann riecht es nach feuchter Erde, vor dem geistigen Auge führt ein Feldweg vorbei am grünen Tann hinauf zur Hütte am Berg. Abseits der Rhetorik hält es Kretschmann mit lichteren Denkern, besser gesagt: Denkerinnen. Dass im Herbst 2012 und damit ausgerechnet in seiner Amtszeit ein Film über die deutsch-jüdische Philosophin Hannah Arendt, übrigens einst Heideggers Geliebte, herauskam, war schon irre. Auch noch mit Barbara Sukowa in der Hauptrolle. Das verschaffte den grünen PR-Strategen die Gelegenheit zu einem hübschen Coup: In Anwesenheit der Regisseurin Margarethe von Trotta versenkte sich Kretschmann zusammen mit seiner Frau Gerlinde, einer stattlichen Fan-Gemeinde sowie zahlreichen Medienschaffenden in einem Stuttgarter Kino in die Betrachtung seiner philosophischen Muse.

Sorgsam wird am intellektuellen Profil des grünen Ministerpräsidenten gearbeitet, der zur Ikone des urbanen Bildungsbürgertums aufsteigt. Auf Dienstreise in Madrid trieb es Kretschmann ins Museo Reina Sofia, zu Picassos Guernica. Lange verharrte er vor dem großformatigen Werk, um ihn herum surrten Fernsehkameras und produzierten schöne Bilder für die Heimat. Schwer vorstellbar, dass sich Kretschmann in dieser Situation auf die gequälten Kreaturen einlassen konnte, die Picassos Epitaph auf die Zerstörung der Stadt Guernica durch die Legion Condor zeigt. In solchen Momenten ist selbst er, der das Attribut „authentisch“ als persönliches Qualitätssiegel auf der Stirn trägt, ein inszenierter Ministerpräsident.

Es gibt aber auch Welten, die bleiben dem Grünen verschlossen. „Ich habe Kretschmann noch nie über Erwerbslose reden hören“, sagt zum Beispiel Bernd Riexinger von der Linken. Da ist etwas dran. Die industrielle Arbeitswelt liegt ihm fern. Kretschmann ist von Beruf Lehrer, sein Vater war Lehrer, seine Frau ist Lehrerin. Was aber wiederum nicht bedeutet, der Ministerpräsident wäre ein Repräsentant berufsständischer Interessen. Ganz im Gegenteil neigt er zu der Meinung, die Beamtenverbände jammerten zu viel, die Staatsdiener seien gut versorgt. „Wenn die Leute wüssten, wie hoch die Pensionen sind, gäbe es eine Revolution“, sagt Kretschmann gelegentlich – und dass Armut kreativ mache, wie man der Geschichte Württembergs entnehmen könne, jenem Landstrich, in dem die Menschen den Mangel an Rohstoffen durch einen Reichtum an Ideen ausgleichen mussten. Aber das waren beiseite gesprochene Gedanken. Zum politischen Programm taugen sie nicht.

Bis ins Alter neugierig

Kretschmann und die Malocher – das ist kein Narrativ, das trägt. Weder eignet sich der Ministerpräsident dafür, noch bringt es die Grünen weiter. Dafür gibt es schließlich die SPD. Kretschmann und die Wirtschaft hingegen, das soll eine gute Geschichte werden. Der Wirtschaft nähert sich Kretschmann nicht als Wissender, sondern als Staunender. Den Menschen zeichne aus, sagt Kretschmann, dass er bis ins Alter neugierig bleibe. Bei den Tieren sei das anders. „Wenn der Fuchs erwachsen isch, isch es rum mit dem Lernen.“ Dem Staunen über das technisch Machbare folgt das Erkennen des wirtschaftlich Notwendigen, aus dem dann politisch die richtigen Schlüsse zu ziehen sind. Mit dieser Haltung tritt Kretschmann den Unternehmern gegenüber. So hat er das Thema Digitalisierung für sich entdeckt. Zu seinen Beratern zählt Kretschmann Hochkaräter wie Bosch-Aufsichtsratschef Franz Fehrenbach.

Natürlich steckt hinter der Wirtschaftsnähe auch ein strategisches Kalkül. Kretschmann hat es in den Satz gekleidet, man könne nicht gegen die Wirtschaft regieren. Jenen anderen Satz hingegen, dass weniger Autos besser wären als mehr, hat er nur einmal gesagt. Aber er ist zu klug, als dass er sich als Machiavellist nackig machte. Schließlich ist er ein Grüner und als solcher immer auf dem Weg zu einem höheren Ziel. Also: „Nur wenn die Ökologie auch wirtschaftlich ist“, sagt Kretschmann, „hat das globale Auswirkungen.“ In seinen Wahlkampfreden, die in ihrer staatsmännischen Grundbesorgtheit auf das Publikum niederprasseln wie ein schwerer Sommerregen, schlägt er den großen Bogen vom Silicon Valley bis nach China. Er hat sie beide bereist, die kalifornische Ideenschmiede und die asiatischen Massenmärkte. Und dabei gelernt, dass Europa zusammenbleiben müsse, wolle es sein Gesellschaftsmodell in der Welt von morgen bewahren. Europa in der Flüchtlingskrise zusammenhalten aber könne nur Angela Merkel.

Neue Wirtschaftspartei

Als Kretschmann seine Grünen im Herbst 2014 zur neuen Wirtschaftspartei proklamierte, lächelten die meisten Christdemokraten etwas gezwungen. Als er im Dezember 2015 die Grünen zur neuen Baden-Württemberg-Partei ausrief, die an die Stelle einer verdienstvollen, inzwischen aber verlebten CDU trete, wuchs die Gereiztheit. Seit die Grünen aber in den Stimmungsbildern der Demoskopen an der über die Flüchtlingspolitik gespaltenen CDU vorbeigezogen sind, werden die Gesichter der Christdemokraten immer länger. Ihre Mienen sagen: Wir sind doch die CDU und nicht dieser Kretschmann. Der stellvertretende CDU-Landeschef Winfried Mack nennt ihn einen „falschen Fuffziger“, der an der Tür klingle und eine Politik verkaufe, für welche die Grünen gar nicht stünden. „So viel Selbstverleugnung war nie“, wettert Mack. Was aber, wenn die Grünen gar nicht mehr dort stehen, wo Mack denkt, dass sie hingehören?

Indes: mit einer Handvoll Bürgermeistern und dem sich als Kretschmann-Fan outenden Textilunternehmer Wolfgang Grupp sind die Grünen weder Wirtschaftspartei noch Baden-Württemberg-Partei. Ihr Glück gründet sich ganz auf Kretschmann: auf die Erzählungen vom lebensklugen Landmann, vom aufgeklärten Bildungsbürger, vom vernunftgeleiteten Ökoökonomen oder – so positioniert er sich in der Flüchtlingskrise – vom pragmatischen Humanisten. Eine zweite Amtszeit käme einer politischen Apotheose gleich. Aber ob dem 67-jährigen Großvater diese Vorstellung überhaupt gefällt? Die Frage kommt auf, wenn man ihn wieder einmal auf einem Podium sitzen sieht, wie er röchelnd nach der Tasse mit dem noch dampfenden Tee greift. Doch anderntags, nach Hopfen, Baldrian und einer Mütze Schlaf, wirkt er wieder kregel und präsent. Was er für eine zweite Regierungsperiode plane, wird Kretschmann in Mannheim gefragt. Es gehe darum, die begonnenen Reformen zu festigen, antwortet er. Das klingt nicht visionär. Doch Politik soll ja nicht Spaß, sondern Sinn machen. Sagt Winfried Kretschmann. Sein Blick hat wieder dieses Sphinxhafte. Er braucht jetzt eine Runde Schweigen.