EU-Kommissar Günther Oettinger eckt immer wieder an – mal ist es seine undiplomatische Art, mal die industriefreundliche Politik.

Brüssel - Was er dieses Mal wohl wieder sagen wird? Es herrscht gespannte Erwartung in der baden-württembergischen Vertretung, wo vor den roten Würsten, Maultaschen und Kässpätzle noch Reden aufgetischt werden. Das Sommerfest der Stuttgarter Landesregierung in Brüssel steht dieses Jahr ganz im Zeichen des EU-Neumitglieds Kroatien, weshalb es dessen Kommissar Neven Mimica vorbehalten ist, seinen Kollegen Günther Oettinger anzukündigen. „Was haben Kroatien und Baden-Württemberg gemeinsam?“, fragt der Mann, der bisher stellvertretender Ministerpräsident in Zagreb gewesen ist, in die Runde, um gleich die Antwort zu geben: „Beide haben jetzt einen EU-Kommissar.“

 

Dieses nicht uncharmante, aber eben nicht unbedingt hochklassige Humorniveau ist ein Grund, warum die Besucher solcher Brüsseler Abendveranstaltungen eigentlich auf Oettingers Auftritt warten. Es ist fast immer etwas geboten, weil der Schwabe viel öfter als alle anderen kein Blatt vor den Mund nimmt. Diplomatische Rücksichtnahme ist seine Sache nicht.

Die Besucher werden an diesem Abend kurz vor der Brüsseler Sommerpause nicht enttäuscht. Zum Einstieg kriegt die „Bild“-Zeitung einen mit, „deren Sportteil ich gern lese“. Das neue EU-Mitglied Kroatien, wie jüngst geschehen, als nächstes Milliardengrab zu denunzieren sei „empörend“. Reden müsse man eher über die Massengräber auf dem Balkan und darüber, wie die Europäische Union dort zur Aussöhnung der ehemaligen Kriegsparteien beigetragen habe. Und überhaupt ist Europa für Oettinger nicht nur eine ökonomische Kosten-Nutzen-Rechnung. Oettinger wäre aber nicht Oettinger, wenn er das so trocken ausgedrückt hätte. Er führt stattdessen für jene, die bei der Eurorettung nur das mindestens 192 Milliarden Euro große Haftungsrisiko für Deutschland sehen, den Begriff „bettnässerische Buchhaltung“ ein. Wäre die „Bild“ an dem Abend dabei gewesen, es gäbe wohl schon das nächste Skandälchen.

Er hat es sich mit vielen Hauptstädten verscherzt

Die Liste derselben ist lang. Seit der ehemalige Ministerpräsident Anfang 2010 aus Baden-Württemberg nach Brüssel weggelobt wurde, hat er viele markige Worte gefunden. Oft genug müssen die Presseleute der Europäischen Kommission versichern, dass es sich nicht um die offizielle Position des EU-Organs, sondern um „die Privatmeinung des Politikers Günther Oettinger“ handelt. So hat es Pia Ahrenkilde-Hansen, die Sprecherin von Kommissionspräsident José Manuel Barroso, kürzlich gesagt. Hinter vorgehaltener Hand aber räumen sie selbst in der Kommunikationsabteilung ein, dass die oft so fade Technokratenveranstaltung mit Oettinger lebendiger wird.

Angefangen hat es mit den Fahnen. Vor dem Berlaymont, dem Hauptsitz der Kommission, sollten die Flaggen jener Länder, die ihre Schulden nicht abbauen, auf halbmast gesenkt werden. Oettingers Forderung wirbelte viel Staub auf. Unlängst aber verursachte der Energiekommissar seinen bisher größten Eklat, indem er Rumänien, Bulgarien und Italien für kaum regierbar erklärte. Frankreich wiederum sei in der Krise „null vorbereitet auf das, was notwendig ist“. Der Abend an der Deutsch-Belgisch-Luxemburgischen Handelskammer in Brüssel hat Verstimmungen ausgelöst. „Er hat es sich mit vielen Hauptstädten verscherzt“, sagt der Luxemburger Europaabgeordnete Claude Turmes von den Grünen. „Oettinger hat eine sehr unüberlegte Art zu kommunizieren“, ergänzt ein belgischer Diplomat, „er hat schon manche verletzende Worte über Mitgliedstaaten gefunden. Gerade bei einem Deutschen kommt das immer noch nicht sonderlich gut an.“

Das eigene Bundesland bleibt nicht verschont

Da hilft es wenig, dass der deutsche Kommissar noch häufiger gegen Deutschland keilt. Dem Berliner Betrieb hat der CDU-Politiker, der dort zu Wochenbeginn häufig an Sitzungen der Parteigremien teilnimmt, erst gerade Arroganz vorgeworfen. Zum Beispiel weil die Energiewende ohne Abstimmung mit den Nachbarn durchgezogen wurde. Mit Europa sei im Wahlkampf erst recht nicht viel los, Berlin sei „mit sich selbst beschäftigt.“ Er rühmt sich dennoch intakter Kontakte: „Es gibt einen guten, regelmäßigen Austausch mit Berlin.“

Das eigene Bundesland bleibt nicht verschont. „Die Äußerungen über ein Atomendlager als süddeutsche Tiefgarage waren ein echter Oettinger“, sagt der baden-württembergische Europaminister Peter Friedrich, kurz bevor er das Sommerfest eröffnet. Der SPD-Politiker weiß es dennoch zu schätzen, dass der EU-Kommissar für Stuttgarter Landespolitiker trotz des Regierungswechsels „gut ansprechbar“ ist: „Er ist ein Mensch der klaren Worte und das ist gut. Aber die Grenze zwischen klaren und unbedachten Worten überschreitet er halt auch.“

Selbst Kritiker bestreiten seine Fachkompetenz nicht

Günther Oettinger setzt sich und legt den Ausdruck seines Outlook-Terminkalenders beiseite, der ihm sagt, in welchem Raum er um wie viel Uhr mit wem sprechen muss. Er hat eine Viertelstunde, bis sein stressiges Programm weitergeht. Er rechnet in Nächten pro Monat, wenn er überlegt, wie die Aufteilung zwischen Brüssel (etwa 15), Berlin (zwei bis drei), Stuttgart (zwei Wochenenden) und irgendwelchen anderen Orten auf der Welt ist. Die Parlamentswochen in Straßburg sind für die Europaabgeordneten stressig, für Kommissare weniger. Da kann man schon mal die inzwischen befreundeten Kollegen Johannes Hahn aus Österreich und Antonio Tajani aus Italien aufs Weingut Laible in Durbach auf der anderen Rheinseite einladen. In Brüssel dagegen ist das Programm immer besonders eng getaktet.

Je nach Thema begleitet ihn der zuständige Mitarbeiter. Nicht dass er inhaltliche Ratschläge bräuchte – selbst politische Gegner in Brüssel bestreiten seine Fachkompetenz nicht. Es geht eher darum, Arbeitsaufträge aus dem aktuellen Gespräch heraus festzuhalten. Zum Beispiel während des Treffens mit einer Delegation, zu der auch ein Bürgermeister aus Griechenland gehört, der in seiner Gemeinde gerne Solarstrom erzeugen würde und sogar den passenden Bergsee für ein Pumpspeicherwerk hätte. Oettinger will, dass ein Treffen mit dem Athener Energieminister arrangiert wird. Damit es vorangeht.

Sein loses Mundwerk können die Mitarbeiter ohnehin nicht bremsen. Ihr Chef will sich in seinem streitlustigen Politikstil, wie man ihn aus der Innenpolitik kennt, nicht bremsen lassen. Die EU schönreden will er sich jedenfalls nicht: „Ich stehe zu dem Begriff Sanierungsfall“, sagt der 59-Jährige in Anspielung auf die Aufregung vor ein paar Wochen: „Denn Sanierungsfall heißt ja nicht Abwicklung. Sanieren heißt gesund werden.“ Eine deutliche Sprache ist für den Schnellsprecher gerade im zusammenwachsenden Europa vonnöten, in dem es nicht nur folkloristischen Charakter hat, wer in Italien die neue Regierung bildet, sondern vielleicht teure Konsequenzen. „Ich bin Politiker und glaube, dass es richtig ist, Dinge auch anzusprechen“, sagt Oettinger. Dabei denkt er möglicherweise auch an die eigene Riege der 28 Kommissare, in denen es genug Leisetreter gibt.

Auf blumige Worte dürfen die Bürgermeister nicht hoffen

Die Schweizer Energiemanager, die an diesem Tag in seinem Büro sitzen, merken schnell, dass ihr Gegenüber nicht lang um den heißen Brei herumredet. Er will, dass sie für den europäischen Markt Speicher in den Alpen bauen. Bisher ist nur eine Reserve von 24 Minuten vorhanden, wenn alles ausfiele. Die Manager fragen, ob das profitabel sei. „Wenn wir über Zypern sprechen würden, würde ich sagen, das ist eher schwierig. Aber Sie liegen ja mittendrin in unserem EU-Energiebinnenmarkt.“

Auf blumige Worte oder ein ganz unschwäbisches Lob dürfen die Bürgermeister verschiedener Großstädte nicht hoffen, die ehrgeizige Klimaziele verfolgen und untereinander kooperieren. „Die Zusammenarbeit europäischer Städte ist wichtig. Noch wichtiger wäre es“, mahnt Oettinger beim nächsten Termin, „dabei mit Städten wie Peking oder São Paulo zusammenzuarbeiten“. Auch die Hoffnung auf zusätzliches Geld nimmt er den Kommunalpolitikern.

Im Sitzungssaal der EU-Kommission wartet nun eine chinesische Wirtschaftsdelegation. Der Vertreter einer Fluggesellschaft geißelt die Klimaschutzabgabe, die auch er bei Flügen aus und nach Europa berappen soll. „Die armen Leute müssen die reichen zum Essen einladen“, sagt der Gast. „Die europäischen Vorgaben sind angemessen und vernünftig“, kontert der EU-Kommissar. Er sagt aber auch, dass man bereit sei, „Kompromisse zu suchen“. „Die Welt ist nicht willens, Europa zu folgen.“

Er spricht viel besser Englisch als zu Beginn

Das Gespräch an diesem Morgen führt Oettinger auf Englisch. Er spricht es viel besser als zu Beginn seiner Amtszeit. Trotzdem sieht ein belgischer Diplomat „noch eine kleine Einschränkung“ bei Oettingers Fähigkeit, politisch hart zu verhandeln: Vieles was er groß ankündige, bekäme er auf diese Weise am Ende nur klein durch.

Das sieht der Deutsche selbstredend anders. „Als meinen größten Erfolg sehe ich, in der Krise den Scheinwerfer auf die Bedeutung der Industrie gelenkt und das 20-Prozent-Ziel verankert zu haben.“ Bis zum Jahr 2020 soll wieder ein Fünftel der Wertschöpfung aus industrieller Produktion stammen – ein potenzieller Zielkonflikt mit dem Klimaschutz. Oettinger will, dass Energie für Unternehmen billiger wird, sonst drohe eine „Deindustrialisierung“.

Leute wie Johannes Lambertz, der RWE-Konzernbeauftragte für die Energiewende, hören so etwas gern: „Wir sehen EU-Kommissar Oettinger als Verbündeten, wenn es darum geht, dass die Belastung für Unternehmen durch Klimaschutzvorgaben nicht zu gravierenden Wettbewerbsnachteilen führt.“ Angesichts solcher Aussagen haben die europäischen Grünen einen Youtube-Film gedreht, der Oettinger als den Büttel der Industrie karikiert.

Mit solcherlei Kritik kann er gut umgehen. „Ich bin motiviert und mache meine Arbeit mit Freude.“ Nachdem er zwischenzeitlich verkündet hatte, nach fünf Jahren auf jeden Fall aufzuhören in der EU-Kommission, kann er sich inzwischen sogar vorstellen weiterzumachen: „Im Oktober 2014 bin ich noch jung genug, um wieder in der freien Wirtschaft zu arbeiten“, sagt er. „Andererseits bin ich hier jetzt gut vernetzt, ich kenne die Abläufe und die Kultur.“ Aber es hängt nicht nur von ihm ab, sondern vor allem von der nächsten Regierungskonstellation in Berlin, ob der deutsche Lautsprecher in Europa weiter tönen darf.