Salvador Sobral aus Portugal gewinnt mit einem leisen, wehmütigen Lied – ganz ohne Spektakel.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Kiew/Stuttgart - Kann man mit so einer Textzeile Sieger beim Eurovision Song Contest werden? „Wenn Du mich nicht lieben kannst, dann liebt mein Herz für uns zwei.“ Und noch dazu, wenn sie auf Portugiesisch gesungen wird? „Amar pelos dois“: der 27-jährige Jazzsänger Salvador Sobral aus Lissabon hat in der Nacht zum Sonntag beim ESC-Finale in Kiew dieses Kunststück, dieses Wunder vollbracht. Ohne große Videospielchen, ohne Feuerwerk, ohne leicht geschurzte Tänzer im Hintergrund, einfach nur mit einem feinen, leisen, wehmütigen Lied über eine eigentlich unmögliche Liebe berührte und verzauberte er offenbar Millionen Zuschauer weltweit. Denn nicht nur die Fachjurys der 43 ESC-Teilnehmerländer gaben Sobral zum Schluss die höchste Punktzahl, auch die Televotings der Zuschauer fielen ganz eindeutig aus: Platz 1 mit 758 Punkten für wahre Songkunst – und der erste Grand-Prix-Gewinn für Portugal überhaupt. Muitos parabéns!

 

Wenn man aber zum ESC-Schluss statt 758 nur sechs Punkte auf dem Konto hat, landet man nicht auf dem ersten, sondern auf dem vorletzten Finalplatz – und ist aller Wahrscheinlichkeit nach für Deutschland angetreten. Die Sängerin Levina hat mit ihrem Song „Perfect Life“ offenbar keinen Draht zum internationalen Publikum gefunden. Nur die Fachjury aus Irland mochte ihr drei Punkte geben, drei weitere kamen aus den Votings: Das war ein herber Schlag für die 26-Jährige, die zuvor einen fehlerfreien und professionellen, aber eben auch sehr glatten Auftritt hingelegt hatte. Schlechter schnitten nur noch die spanischen Surferboys um Manel Navarro ab, die ihren Reggae-Sommer-Möchtegern-Hit „Do It For Your Lover“ mit Krächzern und Kieksern völlig in den Sand setzten: fünf Punkte.

Wachsendes Problem für die ARD

Damit wird der Eurovision Song Contest für die ARD, vor allem für den hier federführenden NDR, zu einem wachsenden Problem. Zum fünften Mal in Folge landete der deutsche Beitrag im Finale tief im Keller. Damit verfestigt sich das Image der Pop-Erfolglosigkeit auf Eurovisions-Ebene, es kratzt mittelfristig am ESC-Interesse des deutschen Publikums, und es mindert natürlich die Bereitschaft erfolgreicher Künstler und Songautoren, sich hier in den kommenden Jahren vielleicht doch einmal zu engagieren.

Andererseits zählt die ARD zu den Hauptfinanziers des Song Contests, nur deswegen ist Deutschland ja stets für das Finale vorqualifiziert. Mit Sicherheit wird nun eine neue Debatte über den deutschen Vorentscheid beginnen – bei der aktuellen Runde saß bekanntlich der Volksmusik-Präsentator Florian Silbereisen in der deutschen TV-Jury, das hat offenbar auch nichts zum Besseren gewendet.

Verdiente Spitzenplätze

Vielleicht lohnt ein Blick auf die erfolgreichen Titel dieses Jahres? Ob der schönstimmige Bulgare Kristian Kostov (Platz 2), das cool-fidele Herrentrio Sunstroke Project aus Moldawien (Platz 3), die düstere Blanche aus Belgien (Platz 4), der charmante Francesco Gabbani aus Italien (Platz 6) oder der rappende Roma Joci Pápai aus Ungarn (Platz 8) – lauter sehr eigenwillige, authentische, toughe Beiträge belegen wohl verdient die Spitzenplätze.

Und wie haben sich überhaupt die Portugiesen von ihrer über 50-jährigen ESC-Erfolglosigkeit befreit? Das portugiesische Fernsehen hat ein Jahr lang pausiert (2016) und in dieser Zeit seinen Vorentscheid auf den Kopf gestellt. Komponisten des Landes aus allen Genres wurden aufgefordert, Vorschläge einzureichen – mit dem ausdrücklichen Zusatz, diese Vorschläge sollten „ungewöhnlich“ sein. So schrieb die in Portugal sehr erfolgreiche Komponistin Luzia Sobral für ihren singenden Bruder Salvador ein kleines, feines, wehmütiges Liebeslied: „Wenn jemand eines Tages nach mir fragt, sag, dass ich lebte, um dich zu lieben.“ Nach dem Sieg holte Salvador seine Schwester auf die ESC-Bühne und sang das Lied mit ihr im Duett. Es war zum Weinen schön.