Ein Postfach, eine Postkarte, ein Geheimnis – schon ist das Kunstprojekt „Post Secret auf Deutsch“ grob beschrieben. Der Tübinger Sebastian J. Schultheiß sammelt seit rund neun Jahren diese Bekenner-Schreiben und veröffentlicht sie. Ein intimes Geständnis hat bereits zu einer Heirat geführt.

Stuttgart/Tübingen - Wer will nicht ein lange gehütetes Geheimnis irgendwann einmal beichten? Aber nicht im Beichtstuhl – sondern viel moderner: Online. In dem Kunstprojekt „Post Secret auf Deutsch“ sammelt der Tübinger Bioinformatiker Dr. Sebastian J. Schultheiß solche intimen Bekenntnisse. Sein Vorbild ist der Amerikaner Frank Warren, der das englischsprachige Pendant „Post Secret“ im Jahr 2004 ins Leben gerufen hat. An Warrens Postfach schicken ihm völlig unbekannte Menschen ausgefallen gestaltete Postkarten mit ihren Geheimnissen, Wünschen, Ängsten oder Gedanken.

 

Schultheiß hat Warrens Homepage während eines Auslandssemesters im US-Bundesstaat Michigan im Jahr 2007 entdeckt und war neugierig, ob die anonymen Bekenntnisse auf Postkarten auch in Deutschland funktionieren könnten. „Mich hat interessiert, welche Themen deutschsprachige Absender einschicken und ob sich diese sehr von den englischsprachigen unterscheiden.“ Im Austausch mit Warren hat Schultheiß dann 2008 eine deutsche Homepage online gestellt, auf der er seitdem regelmäßig sonntags drei bis fünf Karten veröffentlicht.

Bisher hat Schultheiß 2000 Einsendungen gesammelt. Deutschsprachige aber auch internationale Zuschriften aus der ganzen Welt waren darunter. „Ich habe ein Postfach in Tübingen, das ich jeden Samstag leere. Dann scanne ich die neuen Karten ein und stelle sie online“, beschreibt der 36-jährige Tübinger sein Hobby. Postkarten seien wohl das einzige Medium, das heute noch Anonymität erlaube – reizvoll in Zeiten von digitaler Transparenz in den sozialen Medien.

Traurig schöne und lustige Zuschriften

Aktuell sind auf der Seite unter anderem folgende Zuschriften veröffentlicht: „Ich weiß genau, was ich am Ende meines Lebens bereuen werde...zu wenig Sex gehabt zu haben“ oder „Am Mittwoch habe ich mein erstes Tinder-Date. Ich habe Angst“.

Doch auch sehr nachdenkliche und traurig schöne Sprüche werden an Schultheiß geschickt, zum Beispiel: „Ich denke so lange über das Leben nach, dass ich gar nicht lebe“ oder „Ich habe aufgehört, dagegen anzukämpfen. Das weiß niemand. Nichtmal ich selbst.“

In einem selbstproduzierten Trailer erklärt Schultheiß, was es mit dem Projekt auf sich hat:

Ein zweites Video verdeutlicht die Idee hinter dem Kunstprojekt und stellt das 2014 veröffentlichte deutschsprachige Buch von Warren und Schultheiß vor:

Interessant sei für Schultheiß auch, dass die Menschen ihre Gedanken mit der Öffentlichkeit teilen können, ohne als Mensch im Mittelpunkt zu stehen. Dadurch, dass sich die Verfasser auf den Karten sehr kurz und in wenigen Sätzen äußern, erfahre man nicht viel über die Person. Das reizt Schultheiß: „Weil Details zu den erzählten Geschichten fehlen, kann man sich leichter in die Leute hineinversetzen und so auch in den Geheimnissen eher wiederfinden.“

Der 36-Jährige hat in den rund neun Jahren, in denen er Zuschriften erhielt, verschiedene Kategorien ausgemacht: Beruf, Familie und Kindheit, Beziehungen, Religion und Leben nach dem Tod sowie echte Verbrechen. „Wirklich schlimme Verbrechen wurden mir bisher nicht gestanden, eher kleine Delikte wie Diebstahl“, erzählt er.

Eine Karte wird dem Tübinger sicherlich immer in Erinnerung bleiben: Ein Mann hat eine Karte online wiedererkannt, die seine Freundin eingeschickt hat. „Er konnte den braunen Hintergrund der Postkarte und den Umschlag genau beschreiben und hat mich kontaktiert – ich konnte ihm bestätigen, dass ich in dem Zeitraum eine solche Karte erhalten habe.“ Die Frau hat folgendes geschrieben: „Renn weg, ich werd dich nur ausnutzen“. Diese Aussage hat ihren Freund jedoch nicht abgeschreckt – er hat ihr nach dem Bekenntnis einen Antrag gemacht und sie geheiratet.

Karten in Händen halten

Damit die gebeichteten Geheimnisse aber nicht nur online stattfinden, plant Schultheiß eine Art „Leseabend“: „Toll wäre es, wenn auch andere die Karten einmal in Händen halten können“. Auch ein weiteres Buch, in dem der Tübinger die schönsten Einsendungen veröffentlichen will, soll kommen.

Einen Unterschied zu den englischsprachigen Karten von Warren hat Schultheiß auch ausgemacht: Religiöse Themen seien in den Staaten stärker vertreten als in Deutschland. „Meistens haben die Geständnisse, die ich erhalte mit Liebesbeziehungen und Dingen, die man vor dem Partner nicht offen ausspricht, zu tun.“