13 Pottwale sind inzwischen an der Nordseeküste verendet. Wissenschaftler rätseln, weshalb sich die Tiere verirrten und woran genau sie gestorben sind. Vor allem ist unklar, wie sie sich orientieren.

Wangerooge - Bisher sind dreizehn Pottwale vor der deutschen und niederländischen Küste gestrandet. Nun beginnt die Bergung. So werden die sechs bei der niederländischen Wattenmeerinsel Texel verendeten Tiere mit einem speziellen Schiff abtransportiert. Auf der Nordseeinsel Wangerooge haben Bagger Rinnen ins Watt gezogen. In den Vertiefungen sollen die tonnenschweren Kadaver vom Strand gezogen und nach Wilhelmshaven gebracht werden. Zudem wurden Gewebe- und Organproben entnommen, um möglichen Todesursachen auf die Spur zu kommen.

 

Ganz offensichtlich haben sich die jungen Pottwalbullen auf ihrem Weg von Norden nach Süden in die Nordsee verirrt. Weit nördlich im Polarmeer haben sie sich den Sommer über den Bauch mit großen Tintenfischen voll geschlagen. Im Herbst schwimmen die Bullen zurück zu den Weibchen, die das ganze Jahr über mit den Kälbern in den warmen Gewässern der Karibik oder bei den Azoren-Inseln bleiben. Auf dieser Wanderung aber biegen anscheinend vor allem jugendliche Pottwale manchmal falsch ab und schwimmen nicht im Westen, sondern im Osten an Großbritannien vorbei. Dieser Irrtum ist häufig tödlich, finden die Tiere doch aus der relativ flachen Nordsee kaum mehr heraus. Werden die Pottwale dann am Strand angeschwemmt, sind sie oft schon tot oder verenden rasch.

„In der Nordsee sind Pottwale einfach am falschen Platz“, erklärt Michael Dähne, der als Zoologe am Deutschen Meeresmuseum in Stralsund für Meeressäuger zuständig ist. Sind doch die bis zu 18 Meter langen Pottwale ausgewiesene Jäger der Tiefsee, deren Leben einem regelmäßigen Rhythmus folgt: Etwa zwanzig Minuten lang schwimmen sie an der Oberfläche, saugen mit tiefen Atemzügen Sauerstoff in ihre Lungen und blasen die verbrauchte und mit Kohlendioxid angereicherte Luft in die Atmosphäre. Danach tauchen sie für rund 50 Minuten in die Tiefe. Tausend Meter unter dem Meeresspiegel jagen Pottwale dann ihre Leibspeise: Riesenkalmare. Manchmal tauchen sie dabei offensichtlich auch 3000 Meter tief. Jedenfalls haben Forscher im Magen der Meeressäuger bereits Organismen gefunden, die in höheren Wasserschichten nie vorkommen.

Orientierung mit Gehör

Von der Oberfläche dringt kein Lichtstrahl bis in diese Tiefen vor, die Pottwale müssen sich mit ihrem Gehör orientieren. Dazu erzeugen die Tiere in der Nähe ihres Atemloches einen Ton, der vom Schädel reflektiert und von einem mächtigen Fettgewebe im Kopf zu einem ähnlich scharfen Strahl wie ein Laserpointer gebündelt wird. Mit diesem akustischen Laserpointer leuchten Pottwale dann sozusagen in das Dunkel der Tiefsee. Anhand der Echos erkennen die Tiere, ob Hindernisse ihren Weg verbauen und vor allem, wo ihre Beute schwimmt. Diese Methode ernährt Pottwale normalerweise gut. Ausgewachsene Bullen können bis zu zwanzig Meter lang und fünfzig Tonnen schwer werden.

In der Nordsee aber klappt diese Jagd normalerweise schon deshalb nicht, weil das im Süden allenfalls fünfzig Meter tiefe Meer für den Tiefseejäger einfach zu flach ist. Obendrein lebt ihre Leibspeise, die großen Tintenfische, normalerweise nur in der Tiefsee und kommt deshalb in der Nordsee praktisch nicht vor. Die Pottwale hungern also. „Das halten die großen Tiere zwar lange Zeit aus“, erklärt Michael Dähne. Verhungert sind die an den Nordsee-Stränden angeschwemmten Pottwale daher meist nicht.

Dafür aber ziemlich gestresst. Schließlich geht es den Tieren in der Nordsee ähnlich wie einem Bergwanderer, der in dichten Nebel gerät und die Orientierung verliert: Ihr akustischer Laserpointer arbeitet bei relativ großen Wellenlängen. In der Tiefsee sehen sie damit hervorragend, im flachen Wasser verschwimmt ihnen das Echobild eher vor den Augen. Das gilt besonders, wenn der Untergrund wie in der Nordsee weich ist. Mit solchen unscharfen Bildern aber finden die Pottwale kaum noch aus der Nordsee heraus. Die Tiere wissen daher nicht mehr, wo sie hinschwimmen sollen, hungrig sind sie obendrein und geraten so in Panik. Kein Wunder, wenn die Wale dann an der Küste stranden und verenden. Oder bereits vorher im flachen Wasser sterben.

Stört die Echolot-Ortung mit dem akustischen Laserpointer?

Weshalb aber biegen die Pottwale dann überhaupt falsch ab und schwimmen in die flache Nordsee, in der sie nicht zu Hause sind? „Dazu gibt es zwar einige Theorien, von denen aber bisher keine bewiesen ist“, erklärt Michael Dähne. Naturschützer vermuten zum Beispiel, dass der zunehmende Lärm im Meer die Echolot-Ortung mit dem akustischen Laserpointer stört. Das mag zwar bei anderen Meeressäugern wie dem Schweinswal zutreffen, der sich mit einem ähnlichen Echolot orientiert, beim Pottwal aber kann diese zweifelsfrei vorhandene akustische Meeresverschmutzung zumindest nicht die einzige Ursache sein. Schließlich gibt es Berichte, wonach bereits 1577 und 1761/1762 sehr viele Pottwale in der damals vor Erfindung von Dampfschifffahrt und Offshore-Windkraft-Anlagen viel ruhigeren Nordsee gestrandet sind.

Der akustische Laserpointer der Pottwale funktioniert ohnehin nur über kleinere Distanzen hervorragend. Für größere Entfernungen aber sollten Pottwale einen anderen Sinn einsetzen. Manche Forscher vermuten zum Beispiel, dass die Meeressäuger sich ähnlich wie verschiedene Vogelarten an den Linien des Erdmagnetfeldes orientieren. Einen solchen Sinn hat bisher allerdings niemand gefunden. Das will jedoch wenig heißen. Schließlich lassen sich lebende Pottwale in der Natur kaum untersuchen und werden auch nicht in Gehegen gehalten. An einem 50 Tonnen schweren toten Pottwal wiederum gleicht die Suche nach einem vielleicht nur wenige Gramm schweren Organ für den Magnetsinn der sprichwörtlichen Suche nach einer Nadel im Heuhaufen.

Spielen Sonneneruptionen eine Rolle?

Ein solcher Magnetsinn funktioniert sowohl an der Oberfläche als auch in der Tiefsee. Aber nur, solange nicht Sonneneruptionen die Linien des Magnetfeldes der Erde wie vor einigen Wochen verbiegen. „Möglicherweise zeigt der Magnetwegweiser dann für die vom Nordpolarmeer kommenden Pottwale nicht mehr westlich an Großbritannien vorbei, sondern in Richtung Nordsee“, vermutet Michael Dähne vom Deutschen Meeresmuseum. An der norwegischen Küste zieht sich obendrein auch noch eine Tiefseerinne nach Süden, die anfangs 180 Kilometer breit ist und sich im Süden auf 45 Kilometer verengt. In dieser oft 300 und manchmal auch 700 Meter tiefen Rinne aber können Pottwale durchaus jagen. Geraten sie im Süden dann in flachere Gewässer, stecken sie in der Pottwalfalle Nordsee: Sie finden nicht mehr zurück, geraten in Panik und stranden.

Möglicherweise verstärken sich auch verschiedene Effekte wie der Lärm im Meer und Irrtümer des Magnetsinns gegenseitig. Die Forschung tappt dabei aber mangels Möglichkeiten für genaue Untersuchungen noch ziemlich im Dunkeln. Dabei stranden Pottwale nicht erst seit diesem Winter in der Nordsee: Bereits im Winter 1994/95 verendeten 22 dieser Meeressäuger an den Küsten des Randmeeres. Und im Frühjahr 1996 strandete zunächst ein einzelner Pottwal auf der Insel Norderney, kurz danach folgten 16 weitere Tiere auf der dänischen Insel Römö. Die dreizehn Pottwale, die jetzt an der holländischen Küste sowie bei Helgoland, Wangerooge, Büsum und an der Wesermündung strandeten, waren daher nur eine weitere Episode dieser Tiertragödie, deren Ursachen noch immer im Dunkeln liegen.