Die rechtspopulistische Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen rebelliert im Namen des französischen Volkes gegen die Elite. Bei den Präsidentschaftswahlen am 23. April hat sie gute Chancen, in die Stichwahl zu kommen – auch ohne ihren Nachnamen.

Paris - S o kann doch nur jemand reden, dem bitter Unrecht geschehen ist. Jemand, der immer nur eingesteckt, immer nur geschluckt hat, bis es eben irgendwann zu viel, der innere Druck zu groß geworden ist, bis zurückgehaltener Zorn hochkocht, Unzuträgliches emporschießt, sich Bahn bricht. Im Fall Marine Le Pens muss besonders viel Unzuträgliches zusammengekommen sein. Seit Wochen ergeht sich die Chefin des Front National in Zorntiraden. Die Präsidentschaftskandidatin redet sich von der Seele, was sie „nicht mehr länger ertragen kann und will“, wie sie sagt. Die Stimme rau, die Miene resolut, nennt Le Pen Missstände und Schuldige. Sie stellt Konservative und Sozialisten an den Pranger, die einander seit Jahrzehnten an der Regierung ablösen.

 

Einem blonden Racheengel gleich hat die Wahlkämpferin kürzlich in Metz wieder „die da oben“ der Verkommenheit bezichtigt, ihnen vorgeworfen, das Vaterland EU-Bürokraten, Ausländern, Kriminellen, Terroristen ausgeliefert zu haben. Der Zornesfunke sprang über. „Kein Islam, Frankreich den Franzosen, raus mit der Burka, Grenzen dicht“, schallte es aus dem Saal zurück.

Die Empörung ist echt und wurzelt tief

Gewiss, das eigene Seelenheil ist der 48-Jährigen kein Thema. Europas mächtigste Rechtspopulistin, die laut Umfragen am 23. April in die Stichwahl vordringen und sich am 7. Mai mit dem sozialliberalen Ex-Wirtschaftsminister Emmanuel Macron ein Duell um den Einzug in den Élysée-Palast liefern wird, zeigt sich allein um das Wohl des Volkes besorgt. Aber die im Namen des Volkes bekundete Empörung ist eben auch die eigene. Sie ist echt. Und sie wurzelt tief.

Le Pen hat ja selbst von Leuten, die größer, die mächtiger waren als sie, viel eingesteckt – zu viel vermutlich. Fünf Jahre alt ist sie, als der Vater und Parteigründer Jean-Marie Le Pen mit ihr erstmals demonstrieren geht. Drei Jahre nach der frühkindlichen Einführung in die politische Praxis wird sie Opfer politischer Gewalt. Vor dem Domizil der Le Pens explodiert des Nachts eine Bombe. Marine wird körperlich unversehrt aus den Trümmern geborgen. Seelisch ist sie weniger glimpflich davongekommen. Die Ärzte diagnostizieren einen Schock. Wer die Attentäter waren, die dem rechtsextremistischen Vater nach dem Leben getrachtet haben dürften, sollte das Mädchen nie erfahren. Aber dass er Aggression und Hass auf sich zieht, das begreift es. Die Familie hat Glück im Unglück. Sie findet ein neues Domizil. Ein dem Front National zugetaner Zementunternehmer hinterlässt den Le Pens im noblen Pariser Vorort Saint-Cloud eine imposante Villa, Park und Blick auf den Eiffelturm inklusive.

In der Schule erweist sich der Name Le Pen als Stigma

Geborgenheit will sich auch dort nicht einstellen. Marine und ihre beiden älteren Geschwister Yann und Marie-Caroline wachsen in einer separaten Wohnung auf, betreut von einem Kindermädchen. Die Mädchen bekommen die reiselustigen Eltern oft lange Zeit nicht zu Gesicht. In der Schule erweist sich der Name Le Pen als Stigma. Marine schlägt Verachtung entgegen. Ein Lehrer lässt sie unter Aufsicht ein gegen den Vater ergangenes Urteil studieren. Der Verherrlichung von Kriegsverbrechen war der FN-Chef schuldig gesprochen worden. Der Pfarrer weigert sich, dem Kind die Hand zu geben.

Als Marine 16 ist, brennt die Mutter Pierrette mit ihrem Liebhaber durch, dem Biografen des Vaters. Der hintergangene Gatte dreht der Treulosen den Geldhahn zu, quittiert Unterhaltsforderungen mit der Aufforderung, Pierrette könne sich als Putzfrau verdingen. Das ehemalige Pin-up-Girl geht tatsächlich putzen, aber nicht so, wie der sittenstrenge Front-National-Gründer sich das vorstellt. Für „Playboy“-Fotografen schwingt sie lasziv den Besen, am Leib kaum mehr als ein Häubchen. Marine krampft es Herz und Magen zusammen. Sie übergibt sich, täglich, fast anderthalb Monate lang. Sie wird die Mutter 15 Jahre nicht mehr zu sehen bekommen. Als sie später selbst Mutter wird, erweisen sich die Bande zu den Lebensgefährten ebenfalls als brüchig. Aus zwei Ehen gehen drei Kinder hervor, die Marine Le Pen, zweifach geschieden, als Alleinerziehende großzieht.

Ihre Kraft schöpt Le Pen aus den Verletzungen, die ihr das Leben zugefügt hat

Was nicht heißt, dass sie verbittert wäre. Wenn es etwas zu feiern gibt, dann erinnert sie an die Wirtin eines Landgasthofs: derb im Umgang, aber das Herz auf dem rechten Fleck. Und es gibt zuletzt viel zu feiern. Der Front National legt kontinuierlich zu. Bei den Europawahlen 2014 mit 25 und im Jahr darauf bei den Regionalwahlen mit 27 Prozent der Stimmen bedacht, ist er zur stärksten politischen Kraft avanciert. Und auch wenn die Politikerin sich hütet, dies im Präsidentschaftswahlkampf zu offenbaren: Manchmal wird sie schwach. Wie ein kleines Mädchen, das an Verbotenem nascht, gönnt sie sich dann die Freuden des zutiefst verdammten Elitendaseins. So reiste sie, vom US-Magazin „Time“ zu einer der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Erde gekürt, im Frühjahr 2015 zum Gala-Empfang nach New York. Mit dem Rapper Kanye West, seiner Gefährtin Kim Kardashian, der Oscarpreisträgerin Julianne Moore und anderen Promis schritt sie im marineblauen Kleid über den roten Teppich, lachte ins Blitzlichtgewitter.

Aber auch wenn sich Marine Le Pen den Freuden des Lebens nicht ganz verschließt, ihre Kraft schöpft sie doch aus den Verletzungen, die es ihr zugefügt hat. Wenn sie ihrem Zorn freien Lauf lässt, bersten Dämme. Im Frühprogramm von France Info war das kürzlich zu erleben. Der Nachrichtensender hatte drei seiner besten Leute aufgeboten, die Le Pen in ihre Schranken weisen sollten. Angeführt von der Moderatorin Fabienne Sintes brachte das Trio zur Sprache, was es in der Rede der Rechtspopulistin als nicht stimmig ausgemacht hatte. Die Journalisten konfrontierten die Politikerin damit, dass sie den Anteil der an Ausländer vergebenen Sozialwohnungen mit 50 Prozent beziffert hat, der laut Statistik doch nur zwölf Prozent beträgt. Die drei erkundigten sich, ob sich die vom Studiogast beklagte politische Fäulnis nicht auch im Front National ausbreite, wo sich Frédéric Chatillon wegen illegaler Parteienfinanzierung zu verantworten hat, der frühere Chef der rechtsextremen Studentenverbindung GUD und Studienfreund Le Pens.

Ungeheuer routiniert pariert diese Frau die Angriffe

Die Wucht der Widerrede war zu heftig, als dass die Fragesteller standhalten konnten. „Man sieht, dass Sie Ihr Studio nie verlassen und noch nie draußen in den Vorstädten waren, wo der Sozialwohnungsbestand durchaus zur Hälfte in ausländischer Hand ist“, beginnt Le Pen. Die Interviewer kamen kaum noch zu Wort. Zurück blieb der Eindruck, dass Sintes und Konsorten Kleinkrämer sind, dass es für die Franzosen Wichtigeres gibt als statistische Details und Parteienfinanzierungsfragen.

Ungeheuer routiniert pariert diese Frau die Angriffe. Die Botschaft des Front National ist im Kern ja auch dieselbe geblieben, Kritik und Replik folgen altbekannten Mustern. Wobei sich Marine Le Pen zugutehalten kann, das Parteiprogramm von Ewiggestrigem befreit und zeitgemäß verpackt zu haben. Was der Vater und Gründer des Front National als offen rassistische, antisemitische Protestbewegung ins Leben gerufen hatte, ist unter der Führung der Tochter, die ihn 2011 politisch beerbte, zu einer salonfähigen Volkspartei mutiert. Anders als der Vater will die Tochter nicht genüsslich provozieren. Sie will die Macht. Die Fremdenfeindlichkeit ist mittlerweile gefällig verpackt. Nationalisten nennen sich inzwischen Patrioten. Misstrauen gegenüber Muslimen kommt als Sorge um Frankreichs weltliche Staatsordnung daher. Wenn der Anhang „Wir sind bei uns zu Haus“ brüllt oder „Die Franzosen zuerst“, wissen Einheimische wie Fremde auch so, was gemeint ist.

Doch der Fortschritt ist Marine Le Pen teuer zu stehen gekommen. Sie hat schwere Blessuren davongetragen. Mit dem Vater hat sie sich inzwischen überworfen, der den Wandel des Front National von der Protest- zur Volkspartei nicht mittragen wollte. Mit dem Mann also, der nach dem Verlust der Mutter doppelt wichtig geworden war, dem sie vom Äußeren wie charakterlich ähnlicher ist als die Geschwister. „Sie ist wie ich, nur mit Brüsten“, hat der Erzeuger einmal stolz gesagt. Um ihm nahe zu sein, sei die Juristin in die Politik gewechselt, erzählt David Doucet, der Co-Autor eines Anfang des Jahres erschienenen Buches über die Jugend Marine Le Pens.

Mit dem Vater hat sie sich überworfen

Zum Bruch kommt es, als der Vater 2015 rückfällig wird, sich in antisemitischen Anspielungen ergeht, die Gaskammern der Nazis als „Detail der Geschichte“ verharmlost. Die Tochter, die ihr politisches Lebenswerk in Gefahr sieht, lässt ihn aus der Partei ausschließen. Selbst den Familiennamen Le Pen scheint die Präsidentschaftskandidatin tilgen zu wollen. Was dem Vater Gütesiegel war, ist ihr ein Makel, an dem die umworbene bürgerliche Mittelschicht Anstoß nehmen mag, deren Voten sie braucht, will sie es auf die absolute Mehrheit bringen und in den Élysée-Palast einziehen. „Marine 2017“ steht auf den Wahlkampfplakaten oder auch „Rassemblement bleu marine“, marineblaue Sammlungsbewegung. Der Nachname fehlt.

Wirtschaftsexperten warnen vor dem Ausstieg aus dem Euro

Das von offen rechtsradikalen Inhalten befreite Restprogramm birgt noch immer genügend Sprengstoff: den Ausstieg aus dem Euro. Wirtschaftsexperten glauben, dass gerade die von Le Pen umworbenen einkommensschwachen Schichten darunter zu leiden hätten. Für den Fall einer Rückkehr zum Franc prophezeien die Fachleute eine schwindende Kaufkraft und steigende Kreditzinsen. Arbeiter und einfache Angestellte, bei denen Le Pen es auf 50 Prozent Zustimmung gebracht hat, seien die Hauptleidtragenden.

Die Warnungen verhallen ungehört. Wer für die Botschaft Le Pens empfänglich ist, sich von ihren Zornestiraden mitreißen lässt, gibt nicht viel auf das Wort den Eliten nahestehender Sachverständiger.